Schweizerisches Sozialarchiv Newsletter 3/2015

Nr 3, 2015 (in German)

Schweizerisches Sozialarchiv Newsletter 3/2015

Vor 70 Jahren:
Das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa und die Schweiz

Die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ist in den letzten drei Jahrzehnten Gegenstand intensiver historiographischer Beschäftigung, publizistischer und politischer Debatten gewesen. Die Stichworte Diamant-Feiern, nachrichtenlose Vermögen und Bergier-Kommission mögen dazu als Erinnerung genügen. Relativ wenig beachtet wurde dabei das Kriegsende. Gerade dazu befinden sich im Sozialarchiv aber sehr interessante Bestände.Relativ wenig beachtet wurde dabei das Kriegsende. Gerade dazu befinden sich im Sozialarchiv aber sehr interessante Bestände, die Einblicke in verschiedene Aspekte der Zeit vor 70 Jahren gewähren. Im Folgenden sollen davon zwei Punkte herausgegriffen werden: die als „Säuberungen“ bezeichneten Aktionen gegen ausländische Nazis und Faschisten sowie inländische Nazi-Sympathisanten und die vielfältigen Hilfsaktionen zugunsten kriegsversehrter Länder.Ein entschiedenes Vorgehen gegen politisch diskreditierte Mitglieder der deutschen und italienischen Kolonien in der Schweiz forderten, wie die Zeitungsartikelsammlung des Sozialarchivs eindrücklich belegt, bei Kriegsende insbesondere sozialdemokratische, linksliberale und kommunistische Blätter. Bereits am 4. März 1945 bemerkte „Die Nation“ unter dem Titel „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff“ ein zunehmendes Abrücken der deutschen Kolonie in der Schweiz vom Nationalsozialismus, dies, nachdem nicht lange Zeit davor noch grosse propagandistische Anlässe abgehalten worden waren, etwa 1942 ein Sportfest der „Reichsdeutschen Jugend in der Schweiz“ im Zürcher Förrlibuck und eine Feier zum Erntedankfest in Anwesenheit des Leiters der NSDAP-Auslandsorganisation im Hallenstadion. Nach der deutschen Kapitulation mehrten sich dann etwa im „Volksrecht“ Artikel mit Titeln wie „Hinaus mit den Nazi“ (22. Mai), „Use mit ene!“ (8. Juni) oder „Auch die Betriebe säubern!“ (16. Juni). Bereits am 30. Mai publizierte das „Volksrecht“ eine „Erste Liste der ausländischen Feinde der Demokratie in der Schweiz“, die die Namen deutscher Nazis in der Schweiz mit Angaben zur Funktion in NS-Organisationen und Schweizer Aufenthaltsort enthielt. Linksparteien und Gewerkschaften organisierten auch verschiedentlich Demonstrationen für die Ausweisung von Nazis und Faschisten und lancierten in mehreren Kantonen „Säuberungspetitionen“.

Zudem machten sogenannte „Säuberungskommissionen“ Druck auf die eidgenössischen und kantonalen Behörden. Teilweise handelte es sich dabei um private Aktionsausschüsse, denen vor allem SP- und PdA-Mitglieder angehörten, teilweise um parlamentarische Kommissionen. Begrifflich lehnte man sich an die „commissions d’épuration“ an, die in Frankreich kurz nach der Befreiung entstanden waren, um die zunächst unkontrollierten, häufig die Gestalt von Lynchjustiz annehmenden Aktionen gegen Kollaborateurinnen und Kollaborateure in einigermassen rechtsstaatliche Bahnen zu lenken. Auch die mit der Entnazifizierung in der französischen Besatzungszone Deutschlands betrauten Gremien sollten dann den Namen „Säuberungskommission“ tragen. In Zürich setzte der Kantonsrat eine parlamentarische Kommission zur Überprüfung der vom Regierungsrat getroffenen Massnahmen hinsichtlich der Ausweisung ausländischer Nationalsozialisten und Faschisten ein. Aktenkopien dieses allgemein als „Säuberungskommission“ bezeichneten Gremiums im Dokumentationsbestand des Sozialarchivs zeigen eine intensive Korrespondenz mit der kantonalen Polizeidirektion. Insgesamt wurden im Kanton Zürich knapp 800 Verfahren eingeleitet, die in mehr als der Hälfte der Fälle zu Ausweisungen führten.

In den Akten findet sich dabei auch ein aus anderen Zusammenhängen prominenter Name, derjenige des österreichischen Fussballtrainers Karl Rappan. Rappan wirkte seit den frühen 30er Jahren als Vereinstrainer in der Schweiz, zugleich trainierte er 1937/38 und wieder seit 1942 die Schweizer Nationalmannschaft. Seine ganze Familie engagierte sich während des Zweiten Weltkriegs in NS-Organisationen, selber gehörte er, wie der Bundesanwaltschaft seit 1942 bekannt war, unter anderem der NSDAP an. Nach Kriegsende wurden in der Presse nun Stimmen laut, die seine Entlassung als Nationaltrainer und gar seine Ausweisung forderten. In den Berichten der Zürcher Polizeidirektion an die „Säuberungskommission“ wurde dem „Fall Rappan“ breiter Raum eingeräumt, statt der üblichen halben Seite pro Fall nicht weniger als fünfeinhalb Seiten. Darin wurde dargelegt, dass sich Rappans nationalsozialistische Gesinnung und insbesondere seine von der Presse kolportierte NSDAP-Mitgliedschaft nicht nachweisen liessen und das Verfahren gegen ihn deshalb eingestellt worden sei. Der „Fall Rappan“ war symptomatisch für die Kurzlebigkeit des helvetischen „Säuberungs“-Eifers: Der Österreicher trainierte noch bis 1949 und dann wiederum 1953/54 und von 1960 bis 1963 die Schweizer Fussballnationalmannschaft. Während 1962 auf einem Höhepunkt des Kalten Krieges Eishockey-Nationaltrainer Reto Delnon wegen seiner PdA-Mitgliedschaft fristlos entlassen wurde, sah man gleichzeitig ein ehemaliges NSDAP-Mitglied als Fussball-Nationaltrainer nicht als Problem an. Rappan amtierte dann von 1970 bis 1975 noch als technischer Direktor des Schweizerischen Fussballverbands, wurde dessen Ehrenmitglied und erwarb die Schweizer Staatsbürgerschaft.

Eine zweite Facette war, was der „Vorwärts“ am 23. Januar 1946 als „innenpolitische Säuberung“ anmahnte: die Abrechnung mit schweizerischen Faschisten und Kollaborateuren. Hier konzentrierte sich die Empörung vor allem auf die Unterzeichner der sogenannten „Eingabe der 200“. Die von 173 Rechtsbürgerlichen aus akademischen, politischen, wirtschaftlichen und Offiziers-Kreisen unterzeichnete Petition an den Bundesrat hatte im November 1940 eine stärkere Anpassung an Nazi-Deutschland gefordert, insbesondere im Bereich der Pressepolitik. Nazi-kritische Presseorgane sollten „ausgemerzt“ und ihre Chefredaktoren „ausgeschaltet“ werden. Die Unterzeichner der Petition wurden nach Kriegsende in Anlehnung an Vidkun Quisling, den Führer der norwegischen Faschisten und während des Kriegs Vorsitzenden der Kollaborationsregierung, in der Presse etwa als „Swisslinge“ geschmäht. Im Januar 1946 gab der Bundesrat dem Druck in Presse und Parlament nach und veröffentlichte die Eingabe im vollen Wortlaut und mit den Namen der Unterzeichner. Die Konsequenzen waren nicht einheitlich: Während der Aargauer Staatsarchivar Hektor Ammann aus dem Staatsdienst entlassen wurde, kamen etwa die vier Bundesbeamten unter den Unterzeichnern mit mündlichen Ermahnungen davon. Die starke Konzentration des öffentlichen Interesses auf die „200“ liess sowohl die Abrechnung mit den Frontisten als auch die Aufarbeitung der zumindest ambivalenten Haltung von Behörden und Wirtschaftseliten in den Hintergrund rücken.

Ein anderes grosses Thema der Zeit um das Kriegsende stellen die vielfältigen Hilfsaktionen dar, die von Nahrungsmittellieferungen und medizinischer Hilfe über die Einrichtung von Kinderheimen und die vorübergehende Aufnahme von Kindern in der Schweiz bis zur Wiederaufbauhilfe für Bibliotheken – woran sich auch das Sozialarchiv tatkräftig beteiligte – und Vorträgen über demokratisches Zusammenleben reichten. Bereits 1944 hatte der Bundesrat einen Zusammenschluss verschiedener Hilfswerke initiiert, um im kriegsversehrten Europa humanitäre Hilfe zu leisten und den Wiederaufbau zu unterstützen. Die daraus hervorgegangene „Schweizer Spende an die Kriegsgeschädigten“ sollte als patriotisches Werk der Schweizer auch dazu beitragen, die aussenpolitische Isolation bei Kriegsende zu überwinden. In einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren wurde eine Broschüre mit dem Titel „Unser Volk will danken“ verbreitet. Von Februar 1945 bis März 1946 wurden 46 Millionen Franken gesammelt, hinzu kamen noch über 150 Millionen Franken Bundesmittel. Die operative Leitung der „Schweizer Spende“ oblag Rodolfo Olgiati, dessen Nachlass sich heute im Sozialarchiv befindet. Insgesamt leistete die „Schweizer Spende“ bis 1948 in 18 Ländern, darunter auch Deutschland, Hilfe.

Ein spezieller Bestand im Sozialarchiv zur Nachkriegshilfe sind die Akten der vom Schweizerischen Arbeiterhilfswerk initiierten und unter dem Patronat der Zürcher Stadtregierung stehenden Aktion „Zürich hilft Wien“, die zwischen 1946 und 1948 umfangreiche Hilfsaktionen zugunsten der notleidenden Bevölkerung der österreichischen Kapitale organisierte. Gesammelt wurden sowohl Geldmittel als auch Naturalien wie Lebensmittel und Baumaterial. Innerhalb von drei Jahren wurden mehrere Tausend Tonnen Lebensmittel nach Wien geliefert, Küchenbaracken erstellt und Hilfe beim Wiederaufbau der Infrastruktur geleistet. Im Gegenzug traten etwa im Oktober 1947 die Wiener Symphoniker in Zürich auf.

Die Hilfsaktionen ins ehemalige „Grossdeutsche Reich“ waren indessen nicht unumstritten. Die PdA-nahe „Koordinationsstelle für Nachkriegshilfe“ kritisierte diese Form der Unterstützung als primär politisch motiviert und konzentrierte ihre Hilfsaktionen – nicht minder politisch motiviert – auf Länder des kommunistischen Einflussbereichs wie Polen, Jugoslawien, die Tschechoslowakei und Albanien. Auch im Bereich der Hilfswerke schlug so der antifaschistische Konsens rasch in den Antagonismus des beginnenden Kalten Krieges um.

Christian Koller

Bestände zur Thematik im Sozialarchiv:

Dokumentation:
ZA 34.3C: Totalitarismus; Radikalismus; Extremismus: Schweiz
KS 32/86a: Säuberungskommission Kantonsrat Zürich
KS 362/51: Kriegsnothilfe, Hilfsaktionen 2. Weltkrieg

Archiv:
Ar 1.124.9: Archiv Sozialdemokratische Partei der Schweiz: Säuberungen, Ausbürgerungen, Spionage/Landesverräter
Ar 20.930.11: Archiv Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Elsasskinder
Ar 20.930.12: Archiv Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Hollandkinder
Ar 20.930.13: Archiv Schweizerisches Arbeiterhilfswerk: Frankreichkinder
Ar 107.1: Nachlass Rodolfo Olgiati: Schweizer Spende
Ar 201.87: Aktion Zürich hilft Wien

Bibliothek:
Gerhart Waeger: Die Sündenböcke der Schweiz: Die Zweihundert im Urteil der geschichtlichen Dokumente 1940-1946. Olten: Walter-Verlag 1971. (Signatur 47176)
Beat Jung: Karl Rappan – ein „Nazi“ für die Nati, in: ders. (Hg.): Die Nati: Die Geschichte der Schweizer Fussball-Nationalmannschaft. Göttingen: Die Werkstatt 2006. S. 119-126. (Signatur 117332)

Veranstaltungen und Kooperationen des Schweizerischen Sozialarchivs

Im Anschluss an die Jahresmitgliederversammlung des Vereins Schweizerisches Sozialarchiv referiert die Historikerin Gisela Hürlimann (Universität Zürich/ETH Zürich) zum Thema:

Soziale Gerechtigkeit, Standortwettbewerb und Staatsfinanzierung. Die Steuerpolitiken der Schweiz im 20. Jahrhundert.

Mittwoch, 27. Mai 2015, 18.45 Uhr, im Theater Stadelhofen

Die Veranstaltung ist auch für Nichtmitglieder offen.

Aus Anlass des 20-jährigen Jubiläums der 4. UNO-Weltfrauenkonferenz mit 47'000 Teilnehmerinnen aus 189 Ländern und der Verabschiedung der Pekinger Aktionsplattform veranstalten das Schweizerische Sozialarchiv und „Terre des Femmes“ einen Abend zum Thema:
Die 4. Weltfrauenkonferenz in Peking von 1995
An der Veranstaltung präsentieren wir relevante Quellen aus den Beständen des Schweizerischen Sozialarchivs. Im Anschluss daran sprechen die philippinische Friedensaktivistin und Feministin Irene M. Santiago, damals Generalsekretärin der NGO-Konferenz, sowie die Schweizer Teilnehmerinnen Lisbeth Ulrich (Bäuerin) und Elisabeth Joris (Historikerin). Die Veranstaltung findet in deutscher und englischer Sprache statt.

Donnerstag, 28. Mai 2015, 18.00 Uhr, Medienraum

Weitere Informationen zur Veranstaltungsreihe "VOIX DES FEMMES Irene M. Santiago – wie Frauen die Welt verändern, 28.5.-4.6.2015" von TERRE DES FEMMES Schweiz.

Programmflyer von VOIX DES FEMMES 2015

Buchvernissage und Apéro

Memories of Belonging is a three-generation oral-history study of the offspring of southern Italians who migrated to Worcester, Massachusetts, in 1913.
Supplemented with the interviewees’ private documents and working from U.S. and Italian archives, Christa Wirth documents a century of transatlantic migration, assimilation, and later-generation self-identification. Her research reveals how memories of migration, everyday life, and ethnicity are passed down through the generations, altered, and contested while constituting family identities.

The fact that not all descendants of Italian migrants moved into the U.S. middle class, combined with their continued use of hyphenated identities, points to a history of lived ethnicity and societal exclusion. Moreover, this book demonstrates the extent of forgetting that is required in order to construct an ethnic identity.

Christa Wirth has taught at Harvard University and is currently teaching in the History Department at the University of Zurich. She has published articles on migration, including "Memory and Migration, Research" in The Encyclopedia of Global Human Migration, Volume IV, Immanuel Ness (ed.) (Hoboken, NJ: Wiley-Blackwell, 2013, pp. 2158-2164).

Vernissage mit Apéro am Montag, 18. Mai 2015, 18-20 Uhr
im Schweizerischen Sozialarchiv
(in deutscher Sprache)

Neues aus der Bibliothek:

„Was für ein Freak bist Du?“ – Mit dieser Frage werden BibliotheksbenutzerInnen im Rahmen der nationalen Kampagne „Bibliofreak“ dazu aufgefordert, ein Bekenntnis zu ihrer Bibliothek zu machen, um so die Wahrnehmung von Bibliotheken in der Schweiz insgesamt zu stärken. Auf der Plattform www.bibliofreak.com finden sich inzwischen zahlreiche solcher Aussagen, ganz nach Vorbild der analogen Kampagne „Geek the Library“, die seit 2010 erfolgreich in den USA läuft.

Bibliotheken haben ihr Angebot in den letzten Jahren stark ausgebaut und den moderne Informationsbedürfnissen angepasst. Trotzdem ist ihr Image bei vielen Nicht‐NutzerInnen immer noch das einer leicht angestaubten Bücherausleihstation. Längst bieten Bibliotheken aber mehr: Sie sind Veranstaltungsort und Treffpunkt, sie sind Lesesaal, Lernort und Internet‐Café, und sie sind Garant, dass verlässliche Informationen – sei es in digitaler oder analoger Form– allen Interessierten niederschwellig zur Verfügung stehen. Bibliotheken und ihre breite Angebotspalette sollen in der Öffentlichkeit besser wahrgenommen werden, um auf diese Weise neue Nutzergruppen zu erschliessen und die Finanzierung zu sichern. Das sind die Ziele der nationalen Imagekampagne BiblioFreak, die von einem breit abgestützten Aktionskomitee getragen und finanziert von Bund und Kantonen, am 23. April 2015, dem Welttag des Buches, gestartet ist. Bis Ende 2016 möchte man 300 Bibliotheken für eine Mitarbeit gewinnen, bisher sind es bereits rund 200 Bibliotheken, die die Aktion unterstützen, darunter nun auch die Bibliothek des Schweizerischen Sozialarchivs und dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich (wenig erstaunlich) natürlich als Bibliofreaks outen.

Neuanschaffungen

Auch im März und April 2015 haben wir unseren Bestand weiter ausbauen können. Zu den Neuerwerbungen zählen in diesen Monaten Bücher, Zeitschriften u.a. Hier finden Sie eine komplette Auflistung aller aktuellen Neuerwerbungen - März / April 2015.

Möchten Sie sich selbst einen Überblick über unsere stetig wachsende Sammlung verschaffen, so können Sie auf unserer Homepage die Suche Ihren genauen Bedürfnissen anpassen.

Gibt es etwas, was wir noch nicht haben? Kennen Sie einen Geheimtipp, den wir unbedingt in unser Angebot aufnehmen sollten? Wir freuen uns über Ihren Anschaffungsvorschlag.

Neuer Bestand in der Datenbank Bild + Ton:

Bildbestand Martin Fries

1980 beginnen in verschiedenen Schweizer Städten Ereignisse, die später unter dem Schlagwort „Jugendunruhen“ zusammengefasst werden. Viele Jugendliche sind unzufrieden und fordern selbstverwaltete Räume und mehr Unterstützung für ihre Kultur. Die Hinhaltetaktik der Behörden und die Ignoranz vieler Politiker diesen Anliegen gegenüber wirken auf die Dauer frustrierend. Die Jugendlichen demonstrieren auf der Strasse, wo es sehr bald zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei kommt.

F_5111-036-015: Hinter dem Palindrom (die Buchstaben ergeben von vorn und von hinten gelesen dasselbe, insgesamt zwei Mal „neglige“) verbirgt sich einer der Erzfeinde der Jugendbewegung: Alfred Gilgen, damals Zürcher Regierungsrat und Erziehungsdirektor, der mit seiner harten, altväterischen Politik ein vorzügliches Feindbild abgibt. „Gilgen nicht zu beachten“ ist nur ein frommer Wunsch, das Wortspiel aber steht exemplarisch für den Witz und die Kreativität, die in den frühen 1980er Jahren überall gedeihen und wenigstens hie und da zu einem sardonischen Gelächter verhelfen. Michel Fries hat Dutzende dieser Wortspiele, Sprayereien und Parolen fotografiert.

In Zürich erhalten zwar die vielen Unzufriedenen mit der Liegenschaft an der Limmatstrasse 18/20 schon bald ein „Autonomes Jugendzentrum“, sind dann aber mit dem Betrieb und der sich entwickelnden Eigendynamik insbesondere mit dem AJZ als Drogenumschlagplatz überfordert. Auch die Stadtbehörden und die Ordnungsorgane bewahren in dieser turbulenten Zeit keinen kühlen Kopf. Viele Demonstrationen eskalieren in Gewalt, ausgehend von beiden Seiten.

Während zweier Jahre ist Michel Fries Teil dieser Bewegung. Der Horgener verbringt viel Zeit auf Zürichs Strassen und im AJZ. Immer dabei: seine Fotokamera. Er hält Tränengaswolken und zerbrochene Schaufenster fest, fotografiert den Alltag im AJZ mit seinen Konzerten, dem friedlichen Beisammensein, aber auch das Elend und den Müll. Seine Aufmerksamkeit gilt den überall hin gesprayten Spontisprüchen, den Schmähungen an Politiker, Polizisten und Justizvertreter. Die Fotos von Fries sind sorgfältig gestaltet, mit grossem Flair für Lichtführung und Ausschnittwahl. Auffällig ist die melancholische Stimmung, die vor allem die Fotos aus dem AJZ vermitteln. Fries zeigt auch die leeren Räume nach einem Anlass, hingefläzte Penner, demolierte Einrichtungen.

F_5111-015-030: Konzert der Zürcher Band „Putsch“ im AJZ im November 1981, Stefan Müller Laurens am Mikrofon. –
Die völlig unausgeglichene öffentliche Kulturförderung (keine Gelder oder Übungsräume für Bands), kaum Auftrittsmöglichkeiten und kein Widerhall aktueller Musik im Radio tragen viel zur Frustration der Jugendlichen bei. Das AJZ ist während seiner kurzen Existenz beliebter Auftrittsort für Punk- und New-Wave-Bands.

Der Bestand umfasst über 900 Fotos (und wenige Dias) aus den Jahren 1980 und 1981. Fries hat neben den Zürcher Ereignissen auch an seinem Wohnort Horgen fotografiert, wo das Interesse vor allem der Erhaltung von günstigem Wohnraum im Dorfkern galt. Der Bestand ist online recherchierbar (Signatur F_5111).

F_5111-027-024: Bilder, wie sie das kollektive Gedächtnis gerne mit den Zürcher Jugendunruhen verbindet: Barrikaden auf den Tramgleisen beim Bellevue. Viele Demonstrationen eskalieren in Gewalt. Die Polizei kennt kaum ein Pardon beim Einsatz von Gummischrot und Tränengas, die Jugendlichen demolieren wiederholt Schaufenster und Autos in der ganzen Innenstadt. Um die Frage, inwieweit Gewaltanwendung opportun sei, tobt unter den Jugendlichen ein epischer Streit. Er wird nie gelöst und sorgt zusammen mit den unbeirrten Polizeikräften für eine laufende Fortsetzung des Konflikts auf den Strassen.

Stefan Länzlinger

Diverses:

Veranstaltungshinweis der Pro Senectute Bibliothek Zürich
Das Lebensende, vor allem im hohen Alter, ist zur komplexen Entscheidungssituation geworden. Wie sich heutige Menschen bei Krankheit, im Sterben und gegenüber dem Tod verhalten, ist längst nicht mehr schicksalhaft vorgegeben. Wer einen Menschen am Lebensende betreut, muss hohen Anforderungen und Ansprüchen genügen und ist vor komplexe ethische Entscheidungen gestellt. Betroffen sind Patientinnen und Patienten, Angehörige, Pflegende, Ärztinnen und Ärzte, Heimleitungen und weitere Personen.

Eine soeben erschienene Handreichung der Schweizerischen Gesellschaft für Gerontologie (SGG SSG) soll den involvierten Personen helfen, einen gemeinsamen Weg der Entscheidung zu finden. Sie enthält Fallbeispiele, die den Prozess der Entscheidfindung anschaulich und aus der unterschiedlichen Perspektive der Beteiligten schildern. Abgerundet ist die Publikation mit Erläuterungen zentraler Begriffe und der Behandlung rechtlicher Aspekte.

Simone Anna Heitlinger und Esther Enderli, die Co-Leiterinnen der Arbeitsgruppe Spiritualität und Ethik der SGG, präsentieren die wichtigsten Inhalte.

Mittwoch, 10. Juni 2015, ab 18.00 Uhr, Pro Senectute Bibliothek

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