Stellungnahme von Iosif P. Goldenberg, Mitglied der russischen Delegation, 22. September 1917

P/70c
Bulletin des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des
Zentralexekutivkomiteees der Arbeiter- und Soldatendelegiertenräte, Nr.
22, 23.9.1917. Hekt., 4 S. (S. 5-8).1

Der Aufmarsch der Internationale.

   Die Stockholmer Internationale Arbeiter- und
Sozialistenkonferenz, die auf den 9. Sept. einberufen wurde, konnte nicht zur
festgesetzten Frist zusammentreten.

   Aber es wäre falsch aus der Vertagung zu folgern, der
Gedanke der Konferenz selbst sei tot und begraben und dass das
Zentralkomité der Arbeiter- und Soldatenräte von ganz Russland und
das Organisationskomité in Stockholm auf den weiteren Kampf für die
Wiederherstellung der International[e] verzichten und die Verfolgung des
schnellen Abschlusses eines gerechten und demokratischen Friedens ohne
Annexionen und Kontributionen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes
der Völker aufgegeben haben.2 Das allgemeine Ergebnis der
Arbeit des Organisationskomités und der Delegation der Arbeiter- und
Soldatenräte giebt uns das Recht zu behaupten, dass die Initiative des
allrussischen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte einen bedeutenden
Widerhall in den Arbeitermassen hervorgerufen hat und dass sie sogar die
sozialistische Bewegung in den kriegführenden und neutralen Ländern
belebt habe.

   Die Russische Revolution hauchte in die internationalen
Strömungen ein neues Leben ein und hat die Wiedergeburt der
internationalen Solidarität in den Arbeiterklassen hervorgerufen. Die
revolutionäre Demokratie Russlands proklamierte schon an den ersten Tagen
ihres Sieges laut ihren Friedenswillen und hat sich an das Proletariat der
kriegführenden Länder, der ganzen Welt mit einem Appell gewandt,
durch eine gemeinsame Kraftanstrengung diesem abscheulichen Kriege ein Ende zu
bereiten, der materiell und moralisch die zivilisierte Welt ruiniert.

   Um den Willen der revolutionären russischen Demokratie
durchzuführen hat die Delegation der Arbeiter- und Soldatenräte von
ganz Russland - Schweden, Norwegen und die Ententeländer: England,
Frankreich und Italien besucht.3 Mit den leitenden Stellen der
Arbeiterbewegung und dort, wo es die lokalen Verhältnisse erlaubten, mit
den Arbeitermassen direkt in Verbindung tretend, konnte die Delegation
feststellen, dass der Gedanke des internationalen Kampfes für den Frieden,
der von der russischen Revolution proklamiert wurde, im Zuge ist, sich die
Sympathien der Arbeitermassen zu erobern, um zum Eigentum der ganzen Demokratie
zu werden. Die Delegation konnte weiter feststellen, dass die europäische
Demokratie immer mehr zu der Ueberzeugung gelangt, dass dieser Krieg, der vom
Imperialismus verursacht und in den Interessen der Bourgeoisie geführt
wird, tatsächlich unfähig ist die von ihm aufgeworfenen Probleme zu
lösen. Das Bewusstsein dieser Tatsache wird immer stärker und
stärker, wie auch die Ansicht, dass die modernen Regierungen mit ihrer
Geheimdiplomatie unfähig sind, den durch den Krieg erschöpften
Völkern den gerechten und demokratischen Frieden zu geben. Ein Friede, der
von diesen Regierungen unabhängig von der Arbeit der Internationale
geschlossen wird, kann zu einer Quelle neuer Kriege werden. Endlich, versteht
man immer besser, dass ein Friede, der weder die Interessen der
schwächeren Völker denen der Stärkeren noch die Interessen der
Arbeiterklasse denen der Bourgeoisie zum Opfer bringt, nur durch die gemeinsame
Anstrengung des Weltproletariats verwirklicht werden kann.

   Die Delegation konnte weiter feststellen, dass die Initiative
der revolutionären Demokratie Russlands eine gewisse Aktion in den Kreisen
des internationalen Proletariats hervorgerufen hat und dass vor den
Arbeiterklassen der kriegführenden Länder sich in ihrer ganzen
effektiven Tragweite die Frage der Stellungnahme zu ihren Regierungen
erhebt.

   Die Informationen, die zur Stunde im Besitze des
Organisationskomités und der russischen Delegation sind, geben uns
volles Recht zu behaupten, dass auch in den Zentralländern die
Arbeitermassen sich immer mehr von der militaristischen Hypnose befreien und
dass die ethischen Bande der Solidarität von neuem zwischen den
Proletariern der Ententeländer angeküpft werden. Die allgemeine und
ausschlaggebende Ursache dessen, dass die Konferenz am festgesetzten Tage nicht
zusammentreten konnte, liegt in der kritischen Lage, in der sich momentan die
russische Revolution befindet. Die Demokratie der europäischen Länder
hat bisher der Revolution keine genügende und effektive Unterstützung
gegeben.

   Sie konnte nicht mit genügender Energie die Reaktion
abwehren, die schon begonnen hat, öffentlich ihre Sympathien für die
russische Gegenrevolution zu manifestieren und einen Feldzug gegen die
russische Demokratie zu führen. Anderseits offenbart die
Arbeiterdemokratie der Zentralmächte keine genügende politische
Selbständigkeit und leistet keinen effektiven Widerstand der Kriegstaktik,
die bereit ist der russischen Revolution einen Schlag zu versetzen, der
für sie tötlich wirken kann. So war also der Kampf der
europäischen Demokratie gegen die erstarkende Reaktion bis jetzt nicht
energisch genug und die Folge davon war, dass die Regierungen der Entente es
für möglich hielten die sozialistischen und Arbeiterorganisationen
des elementaren Bürgerrechts zu berauben und ihnen die Pässe nach
Stockholm zu verweigern.

   Auf Grund aller dieser Ursachen hat die Arbeiterklasse
Grossbritanniens auf ihrem Kongress in Blackpool erklärt, die
sozialistische internationale Konferenz sei jetzt unzeitgemäss. Aber
derselbe Kongress weist hinsichtlich der Entwicklung des Internationalismus in
den Arbeiterklassen Englands einen Fortschritt auf, im Vergleich mit dem
Kongresse der Trades-Unions in Manchester. Der letztgenannte Kongress hat mit
Zweidrittelmehrheit sogar jeden Gedanken einer Zusammenkunft mit den Vertretern
der deutschen Arbeiter, auch während der Tagung der internationalen
Regierungskonferenz, verworfen. Die Resolution, die auf dem Kongresse in
Blackpool zur Frage der Stockholmer Konferenz angenommen wurde, erklärt,
die Wiederherstellung der Internationale sei die Pflicht der
Arbeiterklassen.

   Weiter hat der Vorsitzende des Kongresses in Blackpool in
seiner Ansprache erklärt, dass der Krieg, der bereits gegen 9 Millionen
Menschenleben vernichtet hatte, seine Unfähigkeit bewiesen hat, die
Fragen, die auf der Tagesordnung stehen, zu lösen. Endlich, erörtert
man in England die Frage der Einberufung einer neuen interalliierten Konferenz,
um dort die Frage des Einberufung der Sozialisteninternationale und die
Schritte, die zu unternehmen sind, um den Frieden zu verwirklichen, einer neuen
Prüfung zu unterziehen.

   Es ist auch zu bemerken, dass auf der interalliierten
Sozialistenkonferenz, die am 28.-30. Aug. in London tagte und gegen die
Passverweigerung protestierte, der Wille des organisierten Proletariats der
Ententeländer für eine Einberufung der Konferenz sehr deutlich
ausgesprochen wurde. Das ständige Komité der Sozialistenparteien
der alliierten Länder, das diese Konferenz gebildet hat, wurde sogar in
der Absicht eingesetzt, dass es die Anstrengungen der Sozialisten der
alliierten Länder für die Wiederherstellung der Internationale
koordiniert.

   Das Organisationsbureau der internationalen Konferenz ist
seinerseits bereit, jeden Versuch zu unternehmen, um dieser neuen
interalliierten Konferenz in ihrem Streben zu helfen, die sozialistischen
Kräfte zur Wiederherstellung der Internationale und zum Kampfe für
den Frieden zu mobilisieren. Aber um der neuen interalliierten Konferenz in
ihrer Arbeit zu helfen, müssen die sozialistischen Parteien und
Arbeiterorganisationen der Zentralmächte auf kommenden Kongressen ihre
ganze Kraft anwenden, damit der Gedanke der Wiederherstellung der
Internationale und eines gerechten demokratischen Friedensschlusses zum
Eigentum möglichst grosser Arbeitermassen werde, damit diese Massen
endlich einen wirklichen Kampf für den Frieden beginnen. Die Konferenz
konnte nicht zur festgesetzten Stunde zusammentreten, aber wir können mit
Befriedigung feststellen, dass der Konferenzgedanke selbst bereits gesiegt hat.
Die lebhafte Sympathie, die für diesen Gedanken von den sozialistischen
Parteien und Arbeiterorganisationen Europas an den Tag gelegt wurde, geben uns
die Gewissheit, dass sie in der nächsten Zukunft den Kampf für die
Einberufung der internationalen sozialistischen Konferenz und für eine
Wiederherstellung der Internationale aufnehmen werden.

   Nachdem das Organisationsbureau der Konferenz vor der
Arbeiterdemokratie der ganzen Welt seine Ueberzeugung zum Ausdruck brachte,
nämlich dass der Gedanke der Wiederherstellung der Internationale und der
Kampf für den Frieden lebendig sind und mit jedem Tage immer mehr
Sympathien der proletarischen und demokratischen Massen erobern, - wird das
Organisationsbureau ohne Wanken und Abweichungen seine Tätigkeit zur
Einberufung der internationalen sozialistischen Konferenz
fortsetzen.4 Das Bureau wird sicher seine internationale Pflicht
erfüllen. Aber es ist notwendig, dass auch alle sozialistischen und
Arbeiterorganisationen ohne Abweichung fortsetzen, die Massen unter dem Banner
der Internationale zu sammeln, und den Kampf für die Einberufung der
internationalen sozialistischen Konferenz ohne Zögern zu führen,
für die Konferenz, die den effektiven Kampf für den gerechten und
demokratischen Frieden verbürgt.

Mitglied der russischen Delegation

J. GOLDENBERG.

Anmerkungen

1   Zuerst erschienen in schwed. Social-Demokraten 22.9.1917, S.
9, mit dem Titel "Internationalen är på frammarsch. Ett ryskt
uttalande" [Die Internationale ist auf dem Vormarsch. Eine russische
Stellungnahme]. Dort heißt es einleitend, daß Goldenberg, der das
Manifest mit unterzeichnet habe ( siehe Dok. Nr. P/70b) darüberhinaus
"persönlich" ("personligen") eine Stellungnahme abgeben wollte, vor allem
auch um die Eindrücke der russischen Delegation von ihrer Rundreise zu
vermitteln. Man betont, daß diese Stellungnahme "ganz" ("helt") mit den
Manifest übereinstimme, "obwohl sie mehr vom russischen Ausgangspunkt her
geschrieben sei" ("ehuru det är skrivet mera enbart från ryska
utgångspunkter"). Dazu auch Bericht von Stobbe am 24.9. in PA AA, WK Nr.
2 c, Bd. 10, S. 72-74. - Siehe auch Dok, Nr. P/66 mit Anm. 2, Nr. P/67-67a und
Nr. P/68.

2   Siehe auch Dok. Nr. P/70a und Nr. P/70b mit Anm. 3. - Nach
Troelstra in "Brieven uit Stockholm" [Briefe aus Stockholm], XV (dat. 16.9.),
in Het Volk 19.9.1917, S. 1, blieben die russischen Delegierten Goldenberg,
Akselrod und Panin nach Abschluß der Gespräche mit dem
Holländisch-skandinavischen Komitee in Stockholm, um die Arbeit
fortzusetzen, d.h. um erstens die Protokolle zu den Gesprächen mit den
Ententesozialisten auszuarbeiten und zweitens sich an der Diskussionen
über den Friedensentwurf zu beteiligen, die allerdings in erster Linie
eine Sache der Neutralen im Komitee seien.

3   Siehe auch Berichte der russischen Delegation in Dok. Nr. P/66
und Nr. P/68 mit den entsprechenden Nachweisen.

4   Siehe Dok. Nr. P/70a-b.