Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx. Freiburg: ça-ira-Verlag 2003. ISBN 3-924627-58-4; 616 S.; EUR 34,00.
Heinrich, Michael: Kritik der politischen Ökonomie. Eine Einführung (=Theorie.org). Stuttgart: Schmetterling Verlag 2004. ISBN 3-89657-582-1;234 S.; EUR 10,00.
Derrida, Jacques: Marx & Sons (= stw 1660). Frankfurt am Main: SuhrkampTaschenbuch Verlag 2004. ISBN 3-518-29260-9; 135 S.; EUR 9,00.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:Johann Christoph Henning, Karl-Mannheim-Lehrstuhl fürKulturwissenschaften, Zeppelin Universität FriedrichhafenE-Mail: [mailto]chenning@zeppelin-university.de[/mailto]
Marx ist wieder in. So sehr, dass Das Kapital demnächst sogar auf deutschen Theaterbühnen gespielt wird. Dies liegt nicht daran, dass irgendein Theoretiker seine Aktualität bewiesen hätte, sondern daran, dass die erlebte Wirklichkeit sich immer mehr dem annähert, was das kollektive Gedächtnis aus seinen einstmals viel gelesenen Schriften noch zu assoziieren vermag: mehr Armut bei mehr Reichtum, Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrisen, verschärfte Klassenauseinandersetzungen und dergleichen. Auch dass Marx auf dem Buchmarkt wieder gut ankommt, kann als Bestätigung seines Denkens gelesen werden: das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein (Krisen fördern Krisentheorien), und dieses Bewusstsein bewegt sich, selbst wenn es eines über Marx ist, marktförmig. In diesem Fall ist es der Markt um Aufmerksamkeit, auf dem Veteranen, die es schon immer gewusst haben, um die Hegemonie der Marxauslegung konkurrieren. Es ist für Autoren, die schon zuvor über Marx schrieben, wünschenswert, innerhalb der neuen Marxwelle als "Trendsetter" zu erscheinen.
Vor diesem Hintergrund sind im Folgenden drei Werke zu betrachten, dievon Veteranen zum Thema erschienen sind: Michael Heinrich, der seit den1980er-Jahren Aufsätze zu Marx publiziert, hat eine glänzende Einführungverfasst (2004); von Moishe Postone, der bereits in den 1970er-Jahren zuMarx hervortrat, wurde nach zehn Jahren eine vielgelobte amerikanischeDissertation übersetzt (2003), die eine neue kritische Lesart von Marxverspricht; und sogar der gar nicht Marxismus-verdächtige JacquesDerrida (2004) versucht zu zeigen, dass sein Dekonstruktivismus eigentlich schon immer Marx mitbehandelt hat. Beginnen wir mit diesemNestor des Poststrukturalismus.Dass der inzwischen verstorbene Derrida im Jahre 1993 mit einem Buch zuMarx aufwartete (Übersetzung 1995 [1]), hat seine Leserschaft seinerzeitüberrascht, war er doch in den 1960er und 1970er-Jahren berühmt gewordenals ein Autor, der am Marxismus vorbei eine intellektuelle Relevanzproduzierte, die radikal, aber dennoch – gerade angesichts des besondersin Frankreich erstarrten und patriarchalische Formen annehmendenMarxismus – angenehm unpolitisch war. Später hat Derrida eine ethischeWende vollzogen, hier jedoch bezieht er sich sogar affirmativ auf KarlMarx. Sein Buch hat daher eine verwunderte, ja zuweilen eineverständnislose Aufnahme erfahren: erstens, weil seine These,Dekonstruktion und Marxismus seien eigentlich stets verwandte Praxengewesen, etwas unglaubhaft blieb, und zweitens, weil das, was er als"neue" Marxlektüre propagierte, inhaltlich nicht recht zu fassen war.[2]Es blieb etwas undeutlich, wofür sich Derrida – jenseits derselbstverständlichen Bekundung, dass es so nicht weitergehen könne inder Welt – genau einsetzen wollte. Marxisten kritisierten das Marxbuchvon Derrida besonders vehement, da Derrida sich auf Marx bezog, ohnereale politische Kämpfe anzusprechen.
Zu einem englischsprachigen Sammelband mit solchen Kritiken hat Derridaim Jahre 1999 ein Vorwort verfasst, in dem er diesen Kritikenentgegentrat.[3] Eben dieses Vorwort ist fünf Jahre später imSuhrkampverlag separat erschienen und hier zu besprechen. DieserSonderdruck ist aus drei Gründen kein gutes Buch: erstens macht eskeinen Sinn, eine Antikritik zu lesen, deren Gegenstand man gar nichtkennt. Zweitens sind die Argumente Derridas, wenn man die Kritiken anseinem ersten Marxbuch hinzuzieht, nicht wirklich überzeugend. Unddrittens manövriert sich Derrida im Rahmen seines Defensivmanövers inPositionen hinein, die seinem Andenken nicht gut tun – auf das Antlitzdieses großen und höchst eigenständigen philosophischen Denkers des 20.Jahrhundert fällt durch die Publikation dieses etwas unwürdigenSchauspiels ein unnötiger Schatten. "Si tacuisses" gilt daher nicht nurfür den Autoren, sondern auch für taktvolle Rezensionen dieser Schrift.Derrida geht in diesem Buch von der Annahme aus, dass man den genauenSinn einer Schrift – in diesem Fall seiner eigenen – durch genaueLektüre erfassen könnte, was die Kritiker seines Buches leider nichtgeleistet hätten. Das widerstreitet deutlich der "Dekonstruktion" derEindeutigkeit des Sinnes, mit der er bekannt geworden ist.
Das neu übersetzte Buch von Moishe Postone entstammt ebenfalls einemDiskussionskontext der 1970er-Jahre. Nur muss Postone nicht beweisen,dass er dem Marxismus entstammt, denn das ist überdeutlich. Bekanntlichsind die Marxdiskussionen in den 1970er-Jahren nicht nur sehr hermetischgewesen, vielfach waren sie auch Schauplatz für männliche Ritualkämpfe.Es war vermutlich nicht einfach, sich innerhalb dieser Szene als Autorzu behaupten; sicher auch deshalb hat sich der Feminismus daher schnelldem Zugriff des Marxismus entzogen. Postones Buch ringt noch mit diesemProblem und löst es, indem er eine "neue Interpretation" von Marxbietet, die sich dadurch auszeichnen will, dass sie "grundlegender" (S.73) und "tiefer" (S. 79, 124) ist als alle anderen. In der Tat – dassieht Postone richtig – argumentiert Marx im Kapital zunächst auf einersehr abstrakten Ebene, um all die teilweise widersprüchlichen Phänomenedes Kapitalismus theoretisch fassbar zu machen. In Postones Lesartallerdings erscheint es als Ursünde des Marxismus, dass er dieseabstrakte und "tiefe" Ebene jemals verlassen hat – jede Anwendungerscheint ihm schon als "verflacht und reduziert" (S. 117). In der Tathat es in der Geschichte "des" (?) traditionellen Marxismus vieleMissverständnisse gegeben. Kann die Lösung aber sein, sich auf dieabstrakteste Ebene – die "Warenform" – zurück zu ziehen, mit derBehauptung, mit ihr seien alle theoretischen Probleme bereits gelöst (S.70, 271, 586)? Wohl kaum. Es ist daher zu fragen, welches ProblemPostone auf über 600 Seiten eigentlich lösen will.
Es geht um einen transzendentalen Aufweis der Bedingung der Möglichkeitvon "Gesellschaftskritik" (S. 75). Man hört als Hintergrund deutlich denHabermasschen Generaleinwand gegen marxistische Strömungen heraus, diesekönnten ihre Kritik nicht "begründen". Postone möchte eine solcheBegründung liefern. Er sieht ein Dilemma darin, dass bisherige Marxismen(die für ihn unbegreiflicherweise eine Einheit bilden) sich für dieBegründung ihrer Kritik auf "Seiendes" (die Arbeit, die Technik, dasProletariat) verlassen hätten. Diese Instanzen könnten allerdings nichtüber den Kapitalismus hinausweisen, da sie ja dem Kapitalismusentstammten – ein nicht ganz einsichtiges Argument. Ganz im Sinne ErnstBlochs, auf den er sich allerdings nicht stützt, sucht Postone nach derKategorie "Möglichkeit" (S. 68ff., 542 etc.). Genauer sucht er eine nochnicht korrumpierten Möglichkeit, mit der man den Kapitalismus "negieren"könnte (S. 397), bzw. mit der man – was ganz und gar nicht dasselbe ist– ein kritisches Bewusstsein "begründen" könnte (S. 73).
Er findet diese Möglichkeit vor allem in ungenutzten Potentialen desSubjektes: im "produktive[n] Potential" der Individuen (S. 70), imWissen darum, dass "Arbeit individuell bereichernd sein" kann (S. 71,vgl. S. 457), in einem anderen Zeiterleben (S. 443), auch im erfülltenKonsum (S. 556); kurz: in den Partien der Grundrisse, in denen Marxseine Vorstellungen einer nicht-entfremdeten Lebens- und Arbeitsweiseumreißt.[4] Es ist jedoch zu fragen, ob das Abgrenzungsbestrebengegenüber dem "traditionellen Marxismus" damit tatsächlich hinreichendeingelöst wird. Und ist diese utopisch angehauchte Visionnicht-entfremdeter Arbeit wirklich Grund (bzw. Begründung) genug, "denKapitalismus" in toto zu negieren? Auf beide Fragen lässt sich eineAntwort nur schwer geben, weil Postone kaum preisgibt, was genau er mit"traditionellem Marxismus" meint und welche konkreten Phänomene desgegenwärtigen Kapitalismus er eigentlich kritisieren will. Es fehlen mitandern Worten die Vermittlungsstufen, die eine offen und unzeitgemäß vom"Wesen" des Kapitalismus (S. 397, 463 etc.) ausgehende Grundsatztheoriemit einer Kritik tatsächlicher Entwicklungen verbinden könnte, die hierebenfalls nur angekündigt wird. Hier nämlich hat sich einiges getan: wieBoltanski, Moldaschl und viele andere gezeigt haben, sind dieKreativitätspotentiale der Arbeit inzwischen zum großen Teil in denProduktionsprozess eingebunden worden, zumindest in der Management- undOrganisations-Theorie.[5] Nicht Marx, wohl aber Postones "neue"Interpretation dürfte daher im gegenwärtigen Kapitalismus tatsächlichein Begründungsproblem haben, da seine Gegeninstanz nicht mehr sounbefleckt ist, wie er hoffte.
Schließlich ist auch das letzte anzuzeigende Buch von Michael Heinrichin älteren Diskursen verwurzelt. Heinrich versteht es in dieserEinführung allerdings, die Leser/innen von zu vielen Detaildiskussionenfreizuhalten und ihnen einen konzisen Überblick in die Kritik derpolitischen Ökonomie zu geben. Der Titel ist Programm – es geht nicht umeine Kritik der gegenwärtig als "neue politische Ökonomie" auftretendenZweige der Mikroökonomie, obwohl diese Kritik verdient hätten, sondernum die Theorien von Karl Marx. Kritik bedeutet in der HeinrichschenLesart jedoch, dass die Marxsche Theorie nicht selbst eine politischeÖkonomie ist, sondern nur die ältere politische Ökonomie und mit ihr denvon ihr beschriebenen Kapitalismus kritisieren wollte (S. 27-34). Daserinnert von ferne an Postones Befürchtung, dass eine Analyse konkreterPhänomene sich bereits unrettbar in diesen verfangen und daher dietranszendierende Kraft verlieren könnte. Dieses eher philosophische undphilologische Marxverständnis hat schon immer mit der Frage ringenmüssen, wie Kritik einer Theorie eigentlich zugleich Kritik einesGegenstandes sein soll. Dieser schillernde "Gegenstand" wird durch solchrealidealistische Doppelkritiken merkwürdig philosophisiert. Hinzu kommtdas Problem, dass ein Kritiker nicht Theorien kritisieren kann, die erstnach dessen Tod entstanden sind – es sei denn, er hätte eine eigeneökonomische Theorie zu bieten, die gegenüber späteren Theorien zubestehen vermag und bestimmte Vorzüge aufzuweisen hat. Alle drei hierbesprochenen philosophischen Marxlesarten lesen Marx jedoch nicht alsÖkonomen – es gibt gute Gründe, das anders zu sehen.[6]
Zum Vorteil für die Leser/innen hält sich Heinrich allerdings nicht andie versprochene Ökonomieresistenz, im Gegenteil – es gelingt ihm, dieLeser/innen auf wenigen Seiten in die Grundzüge der Marxschenökonomischen Theorie einzuweisen: von der Wertformanalyse und derGeldtheorie über Waren- und Geldfetisch, Mehrwertrate, industrielleReservearmee und Zirkulationskosten bis hin zu Zins und Krise. KeineEinführung ist wirklich neutral, und so findet sich auch in diesem Buchein gutes Stück "Heinrichianismus". Das schadet dem Buch jedoch nicht,erstens weil sich Heinrich hier sehr diszipliniert, und zweitens, weiles nur von Vorteil sein kann, auch Heinrichs Positionen – etwa die"monetäre Werttheorie" (S. 62) – kennen zu lernen. Er hätte seineeigenen Anschauungen zwar besser als solche kenntlich machen können.Aber das ist eine Kleinigkeit. Ansonsten kann man ihm zu diesem Buch nurgratulieren und demselben recht viele Leser/innen wünschen.
Diese drei Bücher werden sicher nicht die letzten über das Werk von KarlMarx sein. Wer einen guten Überblick braucht – auch für Studierende –, dem sei das Buch von Heinrich empfohlen. Das Werk von Postone dürftehingegen speziell für diejenigen von Interesse sein, die sich inbinnenmarxistischen Debatten auskennen. Das Buch von Derrida schließlichsagt wenig über Marx, dafür umso mehr über Derrida aus. Es mag alsKommentar zu seinem ersten Marxbuch nützlich sein, allerdings enthebtseine Lektüre nicht der Kenntnisnahme der englischsprachigen Kritiken,auf die es eingeht.
Anmerkungen:
[1] Derrida, Jacques, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt am Main 1995.
[2] Siehe dazu inzwischen: Hutnyk, John, Bad Marxism. Capitalism and Cultural Studies, London 2004, besonders S. 73-112.
[3] Derrida, Jacques, "Marx & Sons”, in: Sprinkler, Michael (Hg.), Ghostly Demarcations. A Symposium on Jacques Derrida’s ‘Spectres of Marx’, London 1999, S. 213-269.
[4] Zur Kritik an der Illiberalität dieses Menschenbildes vgl.: Priddat, Birger, "Human Capital", in: Henning , Christoph (Hg.), Marxglossar, Berlin 2006, S. 133-142.
[5] Boltanski, Luc; Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003; Moldaschl, Manfred (Hg.), Subjektivierung von Arbeit, München 2003.
[6] Als beispielhafte Einführung in das ökonomische (nicht: "ökonomistische") Marxverständnis siehe etwa: Fine, Ben; Saad-Filho,Alfredo, Marx’s Capital, London 2004.
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