Wir fragen: Wie lebten Menschen mit Behinderungen in den beiden deutschen Staaten nach 1945? Welche Konzepte von Behinderung gab es während des Kalten Krieges in Ost und West? Wo steht die Forschung dazu?
Sie haben Antworten darauf, arbeiten zum Thema oder planen ein Forschungsprojekt? Wir laden Sie herzlich ein, einen Beitrag für das Symposium „Der Umgang mit Behinderung nach 1945. Die DDR und Westdeutschland in internationaler Perspektive“ einzureichen, das die Stiftung Ettersberg und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 22. & 23. Mai 2025 in Erfurt veranstalten. Einsendeschluss ist der 30.11.2024.
Der Umgang mit Behinderung nach 1945. Die DDR und Westdeutschland in internationaler Perspektive
Die Stiftung Ettersberg und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur führen am 22. & 23. Mai 2025 eine gemeinsame Tagung durch, die sich dem Thema ›Umgang mit Behinderung nach 1945. Die DDR und Westdeutschland in internationaler Perspektive‹ widmet.
Die aus dem interdisziplinären Forschungsfeld der Disability Studies entstandene Disability History hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, bislang wenig oder nicht beachtete, komplexe Geschichten von Menschen mit Behinderungen in Ost und West in den Blick zu nehmen und so neue Perspektiven auf historische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen zu werfen. Während der nationalsozialistische Massenmord an Kranken und Menschen mit Behinderungen mittlerweile relativ gut erforscht ist1, steht die Forschung zum Umgang mit Behinderung nach 1945 noch am Anfang. Erste sozial- und kulturgeschichtliche Studien zum Leben von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland, der DDR und anderen Staaten Ost- und Ostmitteleuropas2 unterstreichen die Notwendigkeit eines vergleichenden Blicks, um die Spezifika zwischen den einzelnen Ländern und politischen Systemen besser herausarbeiten zu können. Welche Konstruktionen und Vorstellungen von Behinderung gab es und wie veränderten sich diese im Laufe der Zeit? Inwieweit wirkten das nationalsozialistische Menschenbild und die systematische Ermordung von Menschen mit Behinderungen auch nach 1945 in Deutschland und Europa nach? Und unter welchen politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen stand der Umgang mit Menschen mit Behinderungen nach 1945?
In historischen Museen und Gedenkstätten und dabei insbesondere in Dauerausstellungen zur Geschichte nach 1945 finden sich nur selten Erfahrungen und Geschichten von Menschen mit Behinderungen. Dies, obwohl Themen wie Inklusion und Barrierefreiheit in Kulturinstitutionen in den vergangenen Jahren erfreulicherweise stärker in den Vordergrund gerückt sind. Doch die Diskussion über inklusive Arbeit in Museen und Gedenkstätten beschränkt sich zum einen häufig auf bauliche Barrierefreiheit und die Teilhabe an museumspädagogischen, zielgruppenorientierten Angeboten. Zum anderen wird Geschichte auch in diesem Zusammenhang häufig aus Sicht der ›Mehrheitsgesellschaft‹ vermittelt, obwohl beispielsweise Fragen nach gesellschaftlichen Inklusions- und Exklusionsmechanismen in historischer Perspektive – vor der Hintergrundfolie gegenwärtig wieder erstarkender antidemokratischer Kräfte, insbesondere von rechts – eine zunehmend größere Rolle spielen.
An diesen Punkten setzt die Konferenz ›Der Umgang mit Behinderung nach 1945. Die DDR und Westdeutschland in internationaler Perspektive‹ an und bringt die Erkenntnisse aus der Forschung zur Disability History mit der praktischen Geschichtsvermittlung in historischen Museen und Gedenkstätten zusammen.
Wir freuen uns auf Beiträge, die sich mit dem Umgang mit Behinderung in historischer Perspektive nach 1945 beschäftigen und die einzelne oder mehrere Aspekte aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, Lebenssituationen und -entwürfen explizit aus der Perspektive von Menschen mit Behinderungen in den Blick nehmen:
- Bildung & Arbeit: Die Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt stand in den staatsozialistischen Ländern im Vordergrund. Wie aber sahen die (Aus-) Bildungsperspektiven und die Arbeit von Menschen mit Behinderungen in staatlichen Betrieben konkret aus? Und wo stießen sie an ihre Grenzen?
- Religion & Gesellschaft: Welchen Einfluss hatten Religionen und Weltanschauungen auf den Umgang mit Menschen mit Behinderungen in West- und Osteuropa? Welche Rolle wurde behinderten Menschen im Staatssozialismus zuerkannt? Und wie sah deren tatsächlicher Alltag in den staatsozialistischen Regimen aus? Wie unterschied sich etwa der Alltag von behinderten Menschen in westeuropäischen Ländern zu dem in der DDR in den 1970er- oder 1980er Jahren?
- Kunst & Kultur: Welche Rolle nahmen Menschen mit Behinderungen in Kunst und Kultur ein? Wie gestaltete (und veränderte) sich die Repräsentanz von Menschen mit Behinderungen in Gesellschaft und Medien?
- Gebaute Umwelt & Barrieren: Wann und wo entwickelten sich Ideen zum barrierefreien Bauen? Und wie wurden sie umgesetzt? Und ging mit der Idee einer barriereärmeren Umwelt eine allgemeine Veränderung im Umgang und der Wahrnehmung von Menschen mit Behinderungen einher?
- Selbstbestimmung & Fremdzuschreibungen: Welche Vergemeinschaftungsformen von Menschen mit Behinderungen gab es in West- und Osteuropa und wie unterschieden sie sich je nach Zeit, Region und Behinderungsart? Wie organisierten sich Menschen mit Behinderungen und deren Angehörige? Welche Selbstdefinitionen, Selbstorganisationen und Selbstermächtigungspraktiken fanden Betroffenencommunities?
Darüber hinaus laden wir dazu ein, darüber nachzudenken, wie Erkenntnisse der Disability History gewinnbringend in die Geschichtsvermittlung von historischen Museen, Gedenkstätten und Lernorten der außerschulischen historisch-politischen Bildung integriert werden können.
- Welche ›weißen‹ Flecken der Disability History müssen hierfür geschlossen werden? Welche Methoden und Ideen haben sich als erfolgreich erwiesen? Welche Programme gilt es zu entwickeln? Und wie können Menschen mit Behinderungen von Beginn an in Konzeption und Umsetzung einbezogen werden?
Wir bitten darum, ein Kurzexposé (max. 2.500 Zeichen inkl. Leerzeichen auf Deutsch) des Themenvorschlages sowie einen kurzen Lebenslauf bis zum 30. November 2024 an: barrierefrei@stiftung-ettersberg.de zu senden.
Geplant ist eine interdisziplinäre Tagung, auf der sowohl Early Career Scientists als auch erfahrene Forschende und Expert:innen in eigener Sache zu Wort kommen sollen. Die Vorträge sollten 15 Minuten nicht überschreiten. Reisekosten, Übernachtungskosten und Verpflegung der Konferenzbeiträger:innen werden im Rahmen der geltenden gesetzlichen Bestimmungen und vorbehaltlich beantragter Mittel von den Veranstaltern übernommen.
Eine Publikation der Beiträge wird angestrebt.
Anmerkungen:
1 Das gilt in erster Linie für das nationalsozialistische »Euthanasieprogramm«, in dessen Zusammenhang schätzungsweise 300.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen in Europa ermordet wurden. Siehe hierzu beispielhaft: Jörg Osterloh/Jan Erik Schulte (Hrsg.): »Euthanasie« und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten (Schriftenreihe der Gedenkstätte Hadamar, 1), Paderborn 2021; im Speziellen zur so genannten »Aktion T4«: Maike Rotzoll u.a. (Hrsg.): Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer: Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart. Paderborn 2010; bezogen auf die europäische Dimension der nationalsozialistischen »Euthanasie«-Politik siehe: Sybille Steinbacher/Jörg Osterloh/Jan Erik Schulte (Hrsg.): »Euthanasie«-Verbrechen im besetzten Europa. Zur Dimension des nationalsozialistischen Massenmords (Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, 6), Göttingen 2022, zugleich Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 11055, Bonn 2024.
2 Hier hat es insbesondere mit Blick auf die DDR-Geschichte in den vergangenen Jahren einige Veröffentlichungen gegeben. Für einen umfassenden Überblick siehe: Sebastian Barsch/Elsbeth Bösl: Disability History. Behinderung sichtbar machen: Emanzipationsbewegung und Forschungsfeld, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 19 (2022), H. 2; oder neue Studien wie etwa von Pia Schmüser: Familiäre Rehabilitation? Eine Alltagsgeschichte ostdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990), Frankfurt/New York 2023 oder Ulrike Winkler: Mit dem Rollstuhl in die Tatra-Bahn. Menschen mit Behinderungen in DDR: Lebensbedingungen und materielle Barrieren, Halle 2023; Mit Blick auf Westdeutschland siehe beispielsweise: Sebastian Schlund: »Behinderung« überwinden? Organisierter Behindertensport in der Bundesrepublik Deutschland (1950–1990), Frankfurt a.M. 2017; oder etwa für die Sowjetunion: Claire Shaw: Deaf in the USSR. Marginality, Community, and Soviet Identity, 1917–1991, Ithaca 2017.
Dr. Jenny Baumann – Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (j.baumann@bundesstiftung-aufarbeitung.de)
Dr. Christine Schoenmakers – Bundestiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (c.schoenmakers@bundesstiftung-aufarbeitung.de)
Dr. Katharina Schwinde – Stiftung Ettersberg (schwinde@stiftung-ettersberg.de)