Sitzung vom 4. Juni 1917 5 Uhr Nachm.
E b e r t bespricht die Vorgänge aus der Sitzung, die am Vormittag mit dem holländisch-skandinavischen Komitee stattfand.2 Die Verhandlungen vollzogen sich im Widerspruch mit den getroffenen Verabredungen. Bei dem Bestreben des Komitees, die Stellung der einzelnen Parteien zu den vorliegenden Fragen zu ergründen, hatte es den Anschein, als ob sich die deutsche Delegation wegen ihrer Politik, wegen der Haltung zur Regierung, wegen der Schuldfrage usw. zu rechtfertigen hätte. Zu einem solchen Vorgehen ist das Komitee zu einseitig zusammengesetzt. Das bestätigten die Ausführungen von Branting, Vidnes, Söderberg und van Kol. Wie die Dinge sich entwickelt haben, bin ich der Meinung, dass wir antworten müssen. Wir müssen uns davor hüten, dass die von jener Seite aufgestellten Behauptungen unwidersprochen bleiben.
M ü l l e r: Dass Ebert van Kol zurückwies, war angebracht. Wir können uns seinen Ausführungen nur anschliessen. Wir sind nicht in der Rolle des Angeklagten hierhergekommen, sondern wir wollen für den Frieden arbeiten. Es ist angebracht, eine feste Haltung zu zeigen. Huysmans ist befangen.
R. F i s c h e r schliesst sich gleichfalls dem an.
D a v i d: Die Ausführungen der Vormittagssitzung ergaben, dass man im Komitee verschiedentlich der Meinung ist, dass die Ententeländer von Deutschland überfallen sind. Deutschland soll Sühne leisten. Vielleicht wäre eine fixierte Erklärung gut. Noch besser wäre es, zu den angeregten Fragen in einer Broschüre schriftlich Stellung zu nehmen. In der Wirkung wäre eine solche nicht aussichtslos. Wenn auf der kommenden allgemeinen Konferenz die Schuldfrage behandelt werden sollte, dann wäre es besser, sie jetzt schon vertieft zu behandeln. Ueber die Verhandlungen brauchen wir einen zuverlässigen Bericht; vielleicht könnte ihn Richard Bernstein machen.3
E b e r t : Bernsteins Berichte sind nicht gut. Müller und Sassenbach könnten vielleicht abwechselnd Protokoll führen.
B a u e r schliesst sich dem an. Wenn jetzt ein besonderer Berichterstatter verlangt würde, so würde das vielleicht Misstrauen wecken. Ueber die Frage der Berichterstattung müsste in der gemeinsamen Konferenz eine Erörterung stattfinden.
Eine Beschlussfassung über die Berichterstattung wird zurzeit abgelehnt.
M o l k e n b u h r: Wir lehnen es ab, die Angeklagten zu spielen, wie wir auch selbst nicht Ankläger sind. Wir sind zum Teil lahmgelegt, wenn wir hier in der Hauptsache gezwungen sind, die Regierung zu verteidigen, die uns zu Hause in vielen Fragen bekämpft. Ein besonderer Protokollführer ist nicht notwendig.
S c h e i d e m a n n macht den Vorschlag, dass David auf die vorgebrachten Dinge ausführlich in einer Rede antworten solle. Eine sachliche Darstellung unserer Politik ist notwendig. Die heute morgen erlebte Debatte verschiebt die ganze Sache. Die Erörterungen über die Schuld am Kriege, die Schuld der Regierungen an der Kriegführung etc. sind nicht Sache der Konferenz. Für uns muss die gemeinsame Arbeit für den Frieden die Hauptsache sein. Für den Frieden wollen wir auf die Regierungen einwirken. Hier ist kein Tribunal mit Angeklagten. Wir sind hierhergekommen, weil beabsichtigt war, eine Konferenz zur Verständigung der Internationale stattfinden zu lassen. Wir sollten im Wortlaut feststellen, was die Konferenz für uns sein sollte. David könnte seine Ausführungen Bernstein diktieren; wir könnten dann seine Rede hören und so in einer Erklärung Stellung nehmen.
R. F i s c h e r: Wir sollten morgen das Protokoll der ersten Sitzung zur Einsicht verlangen; dann wird es sich zeigen, ob das Protokoll genügt. Wenn es genügt, dann brauchen wir keinen besonderen Protokollführer. Wir brauchen nicht alles zu erörtern, wir haben uns weder für noch gegen die Kriegführung der Regierung zu erklären. Die Kriegführung in Belgien steht doch z.B. in Parallele mit der der Engländer in Rumänien und der der Russen in Polen.
L e g i e n: An erster Stelle sind wir hier, damit vor einem unparteiischen Tribunal ein Ausgleich herbeigeführt wird über die Differenzen in der Internationale. Statt dessen erleben wir diese Ausfälle eines Mitgliedes des I.S.B. Van Kol trug uns Dinge vor, die wir alle aus der Chauvinistenpresse der Kriegszeit kennen. Da die Angriffe nun aber einmal erfolgt sind, müssen wir antworten. Einen Protokollführer zu bestellen, ist jetzt unmöglich. Wenn Bernstein für Ullstein da sei, könne er den Bericht nicht machen. David solle uns seine Rede vortragen, dann wird sie stenographisch aufgenommen werden können. Wir haben dann Gelegenheit, sie vorher zu hören. Sie soll nicht rhetorisch, sondern dokumentarisch wirken. Wir sollen auch jetzt nicht etwa sagen, dass wir uns nicht beteiligen würden, wenn auf einer allgemeinen Konferenz die Schuldfrage erörtert werden soll.
D a v i d: Die Erklärungen, die Bauer und Scheidemann wollen, wünschen Verschiedenes. Scheidemann will eine Erklärung als Einleitung der Antwort auf die heutige Debatte, in der gesagt wird, wir wollen die Gegensätze nicht vertiefen, sondern den Frieden fördern, wir, die wir auf dem Standpunkt des A.[rbeiter]- und S.[oldaten]-Rats stehen. Die Protokollfrage wir schwierig sein. Ich muss den Stoff durcharbeiten; aber meine Reden sind immer Debattereden, es sind also halbe Improvisationen. Wenn ich noch so sehr disponiere, kann ich mich an den Wortlaut nicht binden. Die Dispositionen könnte Bernstein vorher aufnehmen. Der Tenor der Anklage gegen uns war der Satz, dass wir gemeinsame Sache mit einer Regierung machten, die Verbrechen auf Verbrechen häuft. Darauf muss geantwortet werden: Weshalb habt Ihr die andere Seite nicht auch angeklagt?
E b e r t: Wegen des Protokolls sollten wir es zunächst auf die Erfahrungen ankommen lassen. Müller und Sassenbach haben schon oft über solche Verhandlungen durchaus sinn- und sachgemässe Protokolle gemacht, wenn sie den Wortlaut der Ausführungen auch nicht stenographisch aufnehmen. Wir können jetzt nicht gut dem Komitee einen deutschen Protokollführer aufzwingen. David soll auf das Vorgebrachte sachlich antworten. Er soll uns die Disposition seiner Rede hören lassen. Wenn er sie eingehend skizziert hat, kann sie stenographisch festgelegt werden. Wir haben es dann in der Hand, Stellung zu nehmen. Wir sollten uns aber nicht in die Situation bringen lasssen, die Kriegführung der Regierung zu rechtfertigen. Zur Schuldfrage muss gesagt werden, dass wir alles Material haben verfolgen können. Nach Deutschland kommen doch die fremden Zeitungen. Wir verlangen, soweit das überhaupt möglich ist, eine objektive Behandlung der aufgeworfenen Fragen. Zum U-Bootkrieg ist zu sagen, dass er eine Folge der Aushungerungstaktik Englands ist. Wir sind bei der Behandlung der U-Bootfrage immer dafür eingetreten, dass die berechtigten Interessen der Neutralen unter allen Umständen gewahrt werden müssen. Wir haben nicht die Aufgabe, die Regierung weisszuwaschen. Aufgrund der Mitteilungen, die aus Dänemark gemacht wurden,4 haben wir wegen der berechtigten Interessen der Neutralen die nötigen Schritte unternommen.
Es wird beschlossen, mit den finnischen Delegierten eine besondere Besprechung abzuhalten;5 ebenso sollen Davids Dispositionen in einer besonderen Sitzung bespochen werden, zu der auch Baake zugezogen werden soll.6 Wegen der Pressenotizen soll Pohl7 zur Ueberprüfung der Übersetzungen zugezogen werden. Für heute soll dem "Vorwärts" ein kurzer Bericht gegeben werden, in dem ganz kurz gesagt wird, was verhandelt wurde. Zum Fragebogen soll in einer späteren Sitzung Stellung genommen werden.8
E b e r t verliest noch das übersandte finnische Communiqué, über das die Finnen mit uns sprechen wollen, ehe wir den Fragebogen beantworten.9
Ferner soll die Erklärung der ungarischen Delegation beschafft werden.10
Anmerkungen
1 Dokument (12 Seiten) überschrieben Protokoll der Sitzungen der Stockholmer Delegation der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das Sitzungen am 4., 5., 6., 9., 11. und 13.6.1917 wiedergibt.
2 Siehe Dok. Nr. P/27a und P/27b.
3 Richard Bernstein war Redakteur des Vorwärts und Korrespondent der Wiener Arbeiter-Zeitung.
4 Stauning an MSPD-Parteivorstand, 21.4.1917, ABA, SDF, 531.
5 Siehe Dok. Nr. P/27d.
6 Siehe Dok. Nr. P/28c. - Zu Curt Baake, Leiter des sozialdemokratischen Büros für Parlamentsberichterstattung, und zur Berichterstattung der MSPD aus Stockholm Boll 1980, S. 216f.
7 Zu Otto Pohl siehe Dok. Nr. P/01e, Anm. 1.
8 Siehe Dok. Nr. P/28c.
9 Siehe Dok. Nr. P/19c.
10 Vorkonferenzen mit der ungarischen Delegation Dok. Nr. P/24 und Nr. P/25.