Sitzung des Holländisch-skandinavischen Komitees mit der Delegation der MSPD, 6. Juni 1917

P/28a
PA Berlin, NL Hermann Müller, 188, 9-10. Mschr., 2 S.1

Sitzung vom 6. Juni, vormittags 10.30 Uhr.

   Troelstra eröffnet die Sitzung.

   David gibt im Auftrage der deutschen Delegation eine Darstellung über die Entstehung des Krieges und die Schuldfrage.2 Er weist einleitend darauf hin, dass die letzte Sitzung einen Verlauf genommen habe, der von uns nicht gewünscht war. Wir hatten nicht die Absicht, die Schuldfrage zu erörtern; wir wollten alles vermeiden, was zu einer Verschärfung beitragen könnte. Es hat keinen Zweck, in der Vergangenheit zu wühlen; Zweck der Konferenz soll die Verständigung sein.

   (Die einleitenden Sätze sind nach der Niederschrift von David wörtlich dem Protokoll beigefügt. Der Rest der Davidschen Rede ist im Druck erschienen und wird ein Exemplar dem Protokoll beigefügt).3

   Während der Rede Davids geht Branting um 11 Uhr weg und entschuldigt sich, da er eine wichtige Reichstagssitzung wahrzunehmen habe. Er beklage das selbst, aber verspreche, genau nachzulesen, was David gesagt habe.4

   Zum Schluss weist David darauf hin, dass der Krieg heute noch für Deutschland ein Verteidigungskrieg sei, ja, er sei das mehr denn je; die Lage Deutschlands sei immer bedrohlicher geworden, immer mehr Feinde seien gegen uns aufgestanden.

   David schliesst 1.05 Uhr.5

   Troelstra: Ich bin voll Bewunderung für diese meisterhafte Rede.6 Das, was David zum Vortrag gebracht hat, hat einen grossen wissenschaftlichen Wert gehabt. Die Rede erleichtert es uns, in diese Rede uns einzudenken und mitzufühlen mit der deutschen Sozialdemokratie. Ein solcher Vortrag würde auch auf der Generalkonferenz einen ausserordentlichen Eindruck machen zugunsten der Wahrheit und Gerechtigkeit.

   van Kol: Wir wollen lieber die Rede Davids nicht diskutieren; wir haben in solchen Fällen nicht diskutiert mit den Delegationen. Wir wollen ihren Standpunkt kennen lernen. Wir wollen nicht kleine Ausstellungen machen an dieser Rede und an dem Material, das sie gebracht hat. Zuzugeben ist, dass der Krieg in letzter Linie auf ökonomische Ursachen zurückzuführen ist. Dass die ideologischen Argumente allein nicht Eindruck machen, habe ich auch den Franzosen und Belgiern gesagt. Freilich hat auch Deutschland nicht ganz reine Hände. Man braucht nur an Kiautschau und die afrikanischen Kolonien zu denken. Zu weit geht David, wenn er die Schuld auf England legt. Ein Misstrauen für alle künftigen Traktate hat die Auffassung von dem Fetzen Papier gebracht.

   Das ist ein grosses Hindernis; deshalb könnnen wir heute nicht zum Frieden kommen. Auch bei den Deutschen sind Grausamkeiten vorgekommen. Man braucht ja nur an den Hunnenzug erinnern. In der Frage der Deportation haben die Deutschen ihre Pflicht getan, aber wir haben heute schon wieder gehört, dass Deportationen vorkommen.7

   Troelstra schlägt vor, jetzt abzubrechen und Donnerstag 10 Uhr die nächste Sitzung zu veranstalten, in der über den Fragebogen geredet werden soll. Eine Debatte über das Gehörte hätte jetzt keinen Nutzen.8

Anmerkungen

1   Zu diesem Protokoll siehe Kommentar Dok. Nr. P/27a, Anm. 1. Siehe auch Mitschrift von Engberg (Bleistift, 84 S.), in CHA, Stockholm, N. & C., Juni 1917:1, - Auszug in Dok. Nr. P/28b. In CHA, Stockholm, N. & C., Juni 1917:1, auch Notizen von Huysmans. Notizen von Troelstra, in IISG, NL Troelstra, 423, von Van Kol (ganz kurz) in IISG, NL Van Kol, 57, und von Branting, in ARAB, NL Branting, 4.1:2. - Zur Sitzung auch Vorwärts 9.6.1917, S. 1; Bericht Vidnes in norw. Social-Demokraten 16.6.1917, S. 1 [bezieht sich auf Vorwärts]; Tagebucheintragung von Molkenbuhr, 25.6.1917, in Molkenbuhr 2000, S. 315 ; Bericht Scheidemanns in MSPD-Parteiausschuß 26.6.1917, Protokoll S. 9; David 1966, S. 232; Scheidemann 1921, S. 132f., und Scheidemann 1928/2, S. 10.

2   David hatte den Auftrag von der MSPD-Delegation am 4.6.1917 nach der ersten Komiteesitzung auf Vorschlag von Scheidemann hin erhalten; er hatte sich schon früher zu diesem Thema profiliert, siehe Miller 1974, S. 185. David legte die Rede am 5.6. in der Delegation zur Begutachtung vor; siehe Dok. Nr. P/27c und Nr. P/27d. - Nach der Tagebucheintragung von Molkenbuhr, 25.6.1917, in Molkenbuhr 2000, S. 315, gab David "eine Probe, daß man aus dem vorhandenen Material wohl nachweisen kann, daß Deutschland der Krieg aufgedrungen ist und die Mittelmächte nur einen Kampf um ihre Existenz führen. Unsere Schuld besteht eben darin, daß wir überhaupt da sind in der Welt". - Der österreichische Gesandte in Stockholm Hadik berichtete, David habe in einem Gespräch erklärt, daß Deutschlands Organisation jetzt "das ökonomische Durchhaltevermögen im vollsten Maße gewährleiste"; er schien sich "nicht allzu große Sorgen für die Zukunft zu machen", zitiert bei Wanner 1983, S. 473. - Nach Kirby 1986, S. 159, war David "the dominant figure of the SPD delegation to Stockholm".

3   Eduard David, Wer trägt die Schuld am Kriege? Rede, gehalten vor dem holländisch-skandinavischen Friedenskomitee in Stockholm am 6. Juni 1917 (Berlin 1917). Auch als Broschüre in schwedischer Übersetzung: Vem bär skulden till kriget? Tal hållet inför holländsk-skandinaviska fredskommittén i Stockholm (Stockholm 1917).

4   Scheidemann notiert, daß Branting "allerdings nicht böswillig" die Sitzung schon nach einer halben Stunde verlassen mußte; Scheidemann 1921, S. 132.

5   In der Delegation hatte die Rede ohne Zitate und vor den Kürzungsvorschlägen zwei Stunden gedauert, Scheidemann 1921, S. 132. Siehe auch Davids allgemeine Charakterisierung seiner Reden in der Sitzung der MSPD-Delegation am 4.6.1917, Dok. Nr. P/27c.

6   In der Mitschrift von Engberg, Dok. Nr. P/28b: "Dank für Vortrag. Eine meisterhafte Ausführung". In seinen Memoiren bezeichnet Troelstra die Rede Davids "von seinem Standpunkt aus meisterhaft", sie "machte auf alle Eindruck", Troelstra 1931, S. 128. Nach Scheidemanns Bericht in MSPD-Parteiausschuß 26.6.1917, Protokoll S. 9, sei die Rede "eine Glanzleistung" und "ein ungemein gutes und nützliches Werk im Interesse der Partei und im Interesse des Friedens" gewesen. Der Vorsitzende Troelstra habe "nicht Abstand genommen", sondern "die größte Bewunderung für diese Leistung" ausgeprochen. "Jedenfalls hat die Rede ungemein tiefen Eindruck gemacht". Vgl auch Scheidemann 1921, S. 132. David notierte in seinem Tagebuch: "Starker Eindruck. Unsere Leute sehr gehoben. Auch Troelstra. Stauning. Frau Bang", David 1966, S. 232. Dagegen gibt Höglund 1929, S. 186f., ein kritisches Urteil von Arthur Engberg wieder : "anstößig durch seinen unverhüllt annexionistischen Tenor" ("genom sin ohöljt annektionistiska anda stötande"; die Reaktion von Van Kol (" såg obeskrivlig ut", "reste sig upprepade gånger och torkade sig nervöst i pannan med sin näsduk" [sah unbeschreiblich aus, stand mehrmals auf und trocknete sich mit seinem Taschentuch nervös die Stirne]); Branting "erstarrte gleichsam auf seinem Stuhl. Seine Gesichtszüge wurden hart. Aber er beherrschte sich" ("liksom stelnade till i sin stol. Det kom något strävt och hårt över hans ansiktsdrag. Men han behärskade sig"). Was Höglund hier allerdings zu Brantings Antwort ("lugnt, men med en osedvanlig skärpa i tonfallet" [ruhig, aber mit ungewöhnlicher Schärfe im Tonfall]) und zu Eberts "intelligent" vermittelndem Beitrag berichtet, gilt nicht für die Sitzung am 6.6., sondern am 11.6.; dazu Dok. Nr. P/30. - Nach Scheidemann 1921, S. 134, war David "nach Jahr und Tag sehr unglücklich" über diese auch als Broschüre gedruckte Rede, weil nach Bekanntwerden der deutschen Vorkriegs- und Kriegspolitik "von dem zugunsten Deutschlands angeführten Material leider nicht viel übrig" blieb.

7   Scheidemann 1921, S. 133, spricht von Van Kols "einfältigen Bemerkungen". - Zur Rede vgl. auch Mitschrift in Dok. Nr. P/28b.

8   Zum Abschluß siehe auch Dok. Nr. P/28b.