Aus dem Entwurf der Erklärung des Jüdischen Sozialistischen
Arbeiter-Verbandes Poale Zion.1
Das Erscheinen einer jüdischen sozialistischen Delegation,
die im Namen von jüdischen Arbeitern und Sozialisten aus allen
Ländern, wo Juden wohnen, zu der Sozialistischen Internationale spricht,
ist ein historisches Datum. Die Abordnung des Poale-Zion-Verbandes bringt die
Einheit des jüdischen Proletariats und Volkes zum
Ausdruck.
Wir sind geeinigt durch die sozialistische Ausbeutung und den
sozialistischen Klassenkampf, aber auch durch die Tatsache der
Zugehörigkeit zum unterdrückten jüdischen Volke. Trotz des
Verlustes der nationalen Selbständigkeit, ja der Loslösung vom
heimatlichen Boden, der Zerstreuung und der unaufhörlichen Wanderungen in
vielen Ländern, sind die Massen der Juden ein durch Geschichte, Sitte,
Sprache, Kultur und wirtschaftliche Sonderstellung geeinigtes Volk geblieben,
das für die Erhaltung seines nationalen Eigenlebens die schwersten Opfer
bringt.
Das Zusammenleben von grossen jüdischen Massen in
Osteuropa, Amerika und Vorderasien, ihre nationale Rechtlosigkeit in den
meisten Ländern, der unaufhörliche Strom von Hunderttausenden
entwurzelter jüdischer Auswanderer aus einem Lande in das andere - sie
erheben die jüdische Frage zu einem internationalen Problem, das im
Rahmen der nationalen und internationalen Fragen geregelt werden muss, die die
sozialistische Konferenz und den Friedenskongress beschäftigen werden.
Welche Gegensätze die Lage des jüdischen Volkes in
verschiedenen Ländern erzeugt, wie sie durch die Katastrophe des
Weltkrieges zu einer nationalen Tragödie von unerhörter Grösse
sich gestaltet, dies haben wir in unserer Denkschrift an die Sozialistische
Internationale "Die Juden im Kriege" dargelegt, auf die hier hingewiesen werden
soll.2 Das grosse Geschehen der russischen Revolution hat nach
jahrzehntelangem Kampfe die Hälfte des jüdischen Volkes von den
Qualen menschlicher Entrechtung befreit. Umso deutlicher steht die
Judenfrage in allen Ländern jüdischer Massensiedlung als nationale
Frage auf der politischen Tagesordnung.
Die rechtliche Stellung der Nationen in verschiedenen Staaten,
ihr Streben zu Einheit und Selbstregierung, bilden keine innere Angelegenheit
irgend eines Staates. Die Garantien und Sicherungen für den Bestand und
die Freiheit der Nationen, sollen in den Friedensvertrag aufgenommen
werden.
Bei der Regelung der Völkerbeziehungen gehen wir von zwei
Grundsätzen aus:
A. Dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen;
B. den Gesamtinteressen des internationalen
Proletariats, die mit denen der Menschheit identisch sind.
Zu A. Der erste Grundsatz bedeutet:
I. Die Verwirklichung des Rechtes jeder Nation (bezw.
jedes Volksstammes) auf Einheit und demokratische Selbstregierung;
II. die Verbürgung des Rechtes jeder nationalen
Minderheit auf Erhaltung und Entwicklung ihrer nationalen Eigenart und auf
Selbstverwaltung in nationalen Angelegenheiten;
III. Die Entschliessung über die staatliche
Zugehörigkeit umstrittener Gebiete nur auf Grund einer Urabstimmung der
Einwohnerschaft.
Die Anwendung der als Vorbedingung eines dauerhaften Friedens
und demokratischen Nationalitätenrechtes aufgestellten Grundsätze
gegenüber dem jüdischen Volke muss im Friedensvertrag
ausdrücklich hervorgehoben werden, da den jüdischen Minderheiten in
den meisten Ländern die nationalen Rechte verweigert werden, ja sogar ihre
Existenz als Nation geleugnet wird.
Die Lebensinteressen des in seiner Existenz bedrohten
jüdischen Volkes verlangen Sicherungen folgender Art:
a. Rechtliche Bürgschaften für seinen nationalen
Bestand in allen Ländern, wo die Juden eine selbständige
Kulturgemeinschaft bilden und ihr nationales Eigenleben zu erhalten bestrebt
sind.
b. Sicherungen für die ungehinderte nationale
Konzentration in Palästina.
c. Freiheit der Einwanderung und Ansiedlung für die
Juden in allen Ländern.
Zu a. Wir verlangen vornehmlich in
Nationalitätenstaaten, wie Russland, Oesterreich, die Türkei,
bezw. in einem unabhängigen Polen, sowie in den autonomen
Nationalgebieten der bundesstaatlich umgestalteten Reiche die
Sicherstellung der nationalen Selbstverwaltung der jüdischen
Minderheiten auf der Grundlage personaler Nationalautonomie, sowie
nationale Rechtsgleichheit in Staats-, Landes- und Stadtverwaltung.
Zu b. Wir erstreben durch die Schaffung einer möglichst
geschlossenen jüdischen Siedlung in Palästina und den angrenzenden
Gebieten die territoriale Lösung der Judenfrage, eine höhere
Daseinsform für das jüdische Volk.
In der Ansiedlung der wandernden jüdischen Massen in
Palästina erblicken wir den Anfang einer jüdischen Gemeinschaft der
Arbeit und Kultur, die mit ihrem Wachstum dazu bestimmt ist, ein
Anziehungspunkt für die jüdische Emigration und eine Stätte
freier nationaler Entwicklung eines in seiner Existenz gesicherten Volkes zu
werden.
Die kolonisatorische Betätigung und nationale
Selbstverwaltung des jüdischen Volkes in Palästina müssen durch
staatlich anerkannte und international garantierte Institutionen gegen
entrechtende Eingriffe geschützt werden.
Die Freiheit der Einwanderung und Kolonisation bedeutet
einerseits die Beseitigung aller die jüdische Niederlassung in
Palästina einschränkenden Bestimmungen, die Schaffung von
Verhältnissen eines modernen Rechtsstaates, andererseits die
Gewährung von wirtschaftlichen Erleichterungen und Bürgschaften zur
Förderung der Kolonisation, vor allem zwecks Verhinderung der Bodensperre
die Bildung einer hinreichenden Landreserve, sowohl für die Einwanderer,
die sich der Landwirtschaft zuwenden wollen, wie für die bodenarme, bezw.
landlose ackerbautreibende Bevölkerung des Landes.
Die Sicherung der nationalen Selbstverwaltunng der Juden
soll in einem administrativ vereinheitlichten Palästina auf denselben
Grundlagen nationaler Autonomie erfolgen, wie wir sie für alle Länder
jüdischer Massensiedlung fordern, wobei in Palästina von der in der
Türkei geltenden Milet-Verfassung (mit Ausschaltung ihrer religiösen
Elemente) ausgegangen werden kann.
Zu c. Die wirtschaftliche Bedrängnis der arbeitenden
Massen des jüdischen Volkes erzeugt die andauernde Massenwanderung von
Juden aus Osteuropa. Es müssen darum Sicherungen gegen unberechtigte
Einwanderungsbeschränkungen in den Ländern gefordert werden, wohin
sich der jüdische Emigrationsstrom richtet.
Anmerkungen
1 Siehe auch Dok. Nr. P/60a und Nr. P/60c. - Für die
Zusendung einer Kopie dieses Dokuments möchte ich mich bei JLA
bedanken.
2 Die Juden im Krieg. Denkschrift des jüdischen
sozialistischen Arbeiterverbandes Poale Zion an das Internationale
Sozialistische Bureau, hrsg. vom Verbandsbureau. Den Haag 1915, zweite
erweiterte Auflage 1917.