Manifest des Holländisch-skandinavischen-russischen Komitees, 15. September 1917

P/70b
ARAB, Holländsk-skandinaviska kommittén, Box 1. Hekt.1

Zusammenfassung

Manifest an die der Internationale angeschlossenen Parteien

   "Das Organisationscomité der Stockholmer Konferenz
hält es fuer angemessen, nach der Rueckkehr der vom Arbeiter- und
Soldatenrat von ganz Russland nach London, Paris und Rom gesandten
Delegation2 den sozialistischen und Arbeiterparteien, die sich der
internationalen Konferenz angeschlossen haben, eine kurze Erklärung ueber
die Lage zu geben".

   Man erkläre "ganz klar und entschieden", daß der
Plan der Stockholmer Konferenz "weder preisgegeben ist noch es werden
wird".3 Das Konferenzdatum werde festgesetzt und die Konferenz werde
stattfinden, "sobald die Passfrage geregelt ist", d.h. vor allem die englischen
und französischen Delegierten Pässe bekommen
hätten.4

   Die russische Delegation habe auf ihrer Rundreise festgestellt,
daß der Anschluß an die Idee der Stockholmer Konferenz "einhellig"
sei,5 das hätten u.a. auch die interalliierte Konferenz und der
Gewerkschaftskongreß in Blackpool bewiesen.6 "Eine brutale
Verweigerung der Pässe" könne das Proletariat nicht abschrecken. Die
Arbeiter in Frankreich, Italien, England und in den USA werden aufgefordert,
"den Raub einer elementaren Freiheit: der des Meinungsaustausches nicht
zuzulassen".

   Es wird darauf hingewiesen, daß die Stockholmer Konferenz
mit der russischen Revolution"eng verknuepft" sei.7 Die
Arbeiterklasse in allen Länder, vor allem in Deutschland und
Österreich, wird aufgefordert, "ihre sozialistische Pflicht zu erfuellen"
und die Gegenrevolution nicht zu unterstützen.

   Ein genaues Datum für die Konferenz könne jetzt nicht
angegeben werden, da dies von der Paßgenehmigung abhängig sei. Das
Organisationskomitee habe "beschlossen, seine Aktion ruhig und entschieden
fortzusetzen". Es werde in Kürze sämtliche Manifeste herausgeben und
"einen Generalbericht" zusammen mit einer Stellungnahme der neutralen Vertreter
vorlegen.8 Weiter würden Delegierte des Komitees an der
geplanten neuen interalliierten Konferenz und "an jeder anderen, von den
angeschlossenen Parteien organisierten Versammlung" teilnehmen, um dort
über die Tätigkeit und Schlußfolgerungen zu
berichten.9

   Die Stockholmer Konferenz sei "nur eine Etappe auf dem Marsch
des internationalen Sozialismus". "Unser Gedanke ist, dass die Stockholmer
Konferenz ein neues Zeitalter im Kampf des Proletariats gegen den Imperialismus
einleiten soll, dadurch dass sie eine Internationale wiedererrichtet, die zu
gemeinsamer Aktion fähig ist. Die Arbeiterklasse will tatsächlich,
dass dieser Krieg der letzte sei. Sie will die Staaten demokratisieren, neuen
Konflikten vorbeugen, Wirtschaftskriege verhindern und vor allem will sie durch
Rechtsbuergerschaften und Schiedsgerichte eine friedliche, zu Wasser und zu
Lande entwaffnete Welt begruenden - ein Erringen der Demokratie und der wahren
Freiheit. In mitten des entfesselten Hasses hat die Arbeiterklasse auf ihr
Ideal der menschlichen Verbruederung nicht verzichtet".

   Abschließende Losung: "AUF NACH STOCKHOLM!"

   Das Manifest ist unterzeichnet von der holländischen
Delegation: Troelstra, Van Kol, Albarda und Stellvertreter Vliegen und Wibaut;
der schwedischen Delegation: Branting, Söderberg, Möller; der
dänischen Delegation: Borgbjerg und Stellvertreterin Nina Bang; der
norwegischen Delegation: Vidnes; der russischen Delegation: Akselrod, Erlich,
Goldenberg, Rusanov und Smirnov; vom Sekretariat: Huysmans und
Panin.10

Anmerkungen

1   Auch in CHA, Stockholm, N. & C., Sept. 1917, hekt. auf
deutsch und franz.; IISG, NL Victor Adler, 3. Veröffentlicht in schwed.
Social-Demokraten 17.9.1917, S. 4, ohne Kommentar. Zusammengefaßt und
kommentiert in norw. Social-Demokraten 17.9.1917, S. 4; dän.
Social-Demokraten 18.9.1917, S. 3; Troelstras "Brieven uit Stockholm"[Briefe
aus Stockholm], XV (datiert 16.9.), in Het Volk 19.9.1917, S. 2; Hermann
Müller "Stockholm" in Die Neue Zeit, 5.10.1917, S. 8-13, abgedruckt in
Sozialdemokratische Partei-Korrespondenz Nr. 27, 13.10.917, S. 255f.; Troelstra
1917, S. 29-32; Stockholm 1918, S, 487-490, dort im Vorwort S. XXVIf. von
Huysmans zusammengefaßt (S. XXVI fälschlich auf 25.9. datiert und S.
XXVII auf. 19.9.). - Vgl. auch Dok. Nr. P/70a.

2   Berichte der Rundreise nachgewiesen in Dok. Nr. P/66, Anm.
2.

3   Huysmans hob im Vorwort in Stockholm 1918, S. XXVI, vor allem
hervor: "Stockholm est un organisme permanent". Diese Entschlossenheit wurde
auch in den oben in Anm. 1 und unten Anm. 5 nachgewiesenen zusammenfassenden
Berichten unterstrichen. Im norw. Social-Demokraten 17.9.1917, S. 4,
heißt es u.a.: "Es gibt auch keine andere Institution, die mit besserem
Erfolg die Arbeit aufnehmen und zu einem Erfolg führen kann"("Der er
heller ikke nogen anden institution som med bedre held kan opta arbeidet og faa
det til at lykkes"). Siehe auch Dok. Nr. P/70c. - Eine positive Beurteilung
auch in Mitteilungs-Blatt [USPD] Nr. 26, 23.9.1917, Beilage: die Konferenz sei
zwar "zu Grabe getragen", nicht aber der "Konferenzgedanke". Stockholm bleibe
"die Front, von der aus eine umfassende Generaloffensive für den Frieden
in die Wege geleitet werden kann". Auch ebd. Nr. 28, 7.10.1917, Beilage: "der
Stockholmer Friedensgedanke ist nicht tot, er glüht und glimmt auch heute
noch unter der Oberfläche". Im schwedischen Organ der Zimmerwalder Linken,
schwed. Politiken 17.9.1917, S. 1, und 18.9., S. 1, wird das Manifest dagegen
als "die Begräbnisrede" ("begravningstalet") bezeichnet; es beweise nur
die sozialpatriotische Machtlosigkeit. Eine echte Aktion käme nur von
Seiten Zimmerwalds.

4   Im Kommentar in norw. Social-Demokraten 17.9.1917, S. 4, wird
dem Abwarten zugestimmt, da eine Rumpfkonferenz der Parteien der
Mittelmächte und der neutralen Länder weder international sei noch
die vermittelnde Rolle unter den Parteien der kriegführenden Länder
wahrnehmen könne. - Von links wurde darauf hingewiesen, daß es eine
"oberflächliche Betrachtung" und "höchst irreführend" sei, die
Paßverweigerung als einzige Erklärung des Nichtzustandekommens der
Konferenz zu betrachten. Der Grund sei vielmehr "die völlige Uneinigkeit
der sozialistischen Mehrheitsparteien" und deren Weigerung, "ihre bisherige
Politik aufzugeben", so z.B. Robert Danneberg, "Der Weg nach Stockholm"
(datiert 20.9.), in Der Kampf Nr. 10, Oktober 1917, S. 285-292

5   Nach Huysmans in Stockholm 1918, S. XXVI, "l'immense
majorité des délégués interalliés". Stauning
wies in seinem Bericht im Parteivorstand seiner Partei am 19.9.1917, in ABA,
SDF, FU-HB-Møder, nicht zuletzt mit Blick auf England, Frankreich und
die USA darauf hin, "daß der Friedenswille in der Welt stetig und stark
im Wachsen sei" ("at Fredsviljen Verden over er i stadig og stærk
Stigning"). In einem Interview (in "Allgemeen Handelsblad"), auszugsweise
wiedergegeben in dän. Social-Demokraten 18.9.1917, S. 1, erklärte
Troelstra, daß wegen der von der russischen Delegation beschriebenen
Situation die Aussichten für die Stockholmer Konferenz "günstiger als
je" ("gunstigere end nogensinde") seien, auch wenn ein Aufschub von "einigen
Wochen" ("nogle Uger") notwendig sei. "Die stetig wachsende Friedensbewegung"
("Den stadig voksende Fredsbevægelse") werde "unwiderstehlich"
("uimodstaaelig") sein. Ähnlich auch Goldenberg in Dok. Nr. P/70c.

6   Die interalliierte Konferenz fand in London am 28.-29-8.1917
statt und der Gewerkschaftskongreß in Blackpool am 3.-4.9.1917. Dazu
siehe Berichte von Ehrlich und Goldenberg in Dok. Nr. P/66 bzw. Nr. 70c.

7   Ein baldiger Friede sei im Interesse der Freiheit in
Rußland und die Rettung der russischen Revolution, so Leitartikel in
dän. Social-Demokraten 18.9.1917, S. 3. Die Stockholmer Konferenz sei "ein
Teil der Politik des revolutionären Rußlands" ("et led i det
revolutionære Ruslands politik") und die Erhaltung der russischen
Revolution sei die derzeit wichtigste demokratische Aufgabe auf der Welt, so
Leitartikel in norw. Social-Demokraten 18.9., S. 4. Nach Troelstra in "Brieven
uit Stockholm" [Briefe aus Stockholm], XIV (dat. 13.9.), in Het Volk 18.9.1917,
S. 1, habe sich die Neuordnung in Rußland um "Stockholm" herum
konzentriert, und "Stockholm" habe die russische Revolution "in internationale
Aktion umgesetzt" ("omgezet in internationale aktie"). Nach Brief XVI (dat.
19.9.), in Het Volk 25.9., S. 1, sei die Kriegsbeendigung durch einen
allgemeinen Frieden das beste Mittel, Rußland vor einem Separatfrieden zu
bewahren. Siehe auch Goldenberg in Dok. Nr. P/70c. - Hermann Müller wies
in seinem oben in Anm. 1 nachgewiesenen Artikel zum einen darauf hin, daß
die russische Revolution Stockholm zu einem "Symbol" habe werden lassen; zum
anderen sei Frieden notwendig, um "die Errungenschaften der Revolution zu
konsolidieren".

8   Es kam bis zum 14.9.1917 zu keiner Einigung über ein
Friedensprogramm des Komitees. In einem Bericht von Fürstenberg (über
Hadik) aus Stockholm an das Außenministerium in Wien, 14.9.1917, in
HHStA, PA I, Krieg 25 z, rot 960 (auch in VII/17. F 156, Gesandtschaft
Stockholm, Berichte) heißt es: Die Mehrheit des Komitess trete "für
Übermittlung des [...] Generalreferats an Sozialisten-Parteien beider
gegnerischer Gruppen ein. Diesem Vorschlag widersetzten sich mit Nachdruck
dänische Mitglieder Borgbjerg und Bang mit der Begründung, in Rede
stehendes Elaborat des Komitees, welches Ausgleich zwischen Friedensbedingungen
Kriegführender suche, sei nur geeignet, Konflikt zwischen letzteren zu
verschärfen und Antagonismus ins Komitee hineinzutragen. Beide Parteien
würden sicher Unneutralität vorwerfen". In einem folgenden Bericht am
17.9.1917, ebd., wird mitgeteilt, das Komitee habe "den Gedanken, das von ihm
ausgearbeitete Generalreferat, welches einen Entwurf der Friedensbedingungen
enthalten soll, allen angeschlossenen Sektionen z u r  G e g e n ä u
ß e r u n g zu übersenden, fallen gelassen. Nicht nur die
zentralmächtefreundlichen Komiteemitglieder, sondern auch andere hatten
schliesslich Bedenken dagegen, einen derartigen Vorschlag zu machen, in welchem
konkrete Friedensbedingungen, in erster Linie jene territorialer Art, sozusagen
mit Sanktion des Komitees versehen, in die Welt hinausgeschickt werden sollten.
[...] So wurde beschlossen, sich lediglich darauf zu beschränken, einen
den Inhalt aller hier niedergelegten Memoranden der sozialistischen
Parteidelegationen zusammenfassenden Bericht zu versenden, der die mittlere
Linie einhalten und weder vom Komitee befürwortet noch auch beantwortet
werden braucht". - Weitere Diskussionen erfolgten nach Notizen von Van Kol am
19.9., 21.9 und 24.9.1917, in IISG, NL Van Kol, 57. Am 19.9. ging es, wie
Troelstra ausführte, vor allem um ökonomische Fragen (die freie
wirtschatliche Entwicklung und den freien Verkehr) sowie um Schiedgerichte,
Sanktionen und Abrüstung. Troelstra wollte die ökonomischen Fragen
offenbar an die erste Stelle setzen, Huysmans, Van Kol und Akselrod dagegen an
die zweite. Troelstra konstatierte immerhin, daß man sich über die
ökonomischen Ursachen des Krieges einig sei. Branting hob hervor,
daß es in erster Linie um die Grundlagen eines dauerhaften Friedens gehe.
Hinsichtlich der territorialen, d.h. politischen Fragen wies er auf
Schiedsgerichtsbarkeit hin. Am 24.9. diskutierte man u.a. Belgien. Huysmans,
Van Kol und Branting werden als Diskussionsteilnehmer genannt. Branting
bezeichnete es als Pflicht, ohne jede Erklärung die Wiederherstellung
Belgiens zu fordern. Van Kol verwies kritisch auf Deutschlands "sophistische"
Formulierung "Unrecht wiedergutmachen". Das Ergebnis dieser Diskussionen war
schließlich der Friedensentwurf vom 10.10.1917; siehe Dok. Nr.
P/72-72a.

9   Siehe auch Schreiben von Huysmans an Henderson, 18.9.1917,
angeführt in Dok. Nr. P/67, Anm. 12, und den Vorschlag von Huysman in Dok.
Nr. P/67a. - Huysmans nahm am Parteitag der Labour Party in Nottingham und
dessen Fortsetzung in London am 23.-25.1. und 26.2.1918 sowie an der
interalliierten Konferenz am 20.-24.2.1918 teil.

10   In einem Kommentar in dän. Social-Demokraten 
18.9.1917, S. 3, wird hervorgehoben: "Das Manifest ist tatsächlich
unparteiisch und neutral" ("Manifestet er i Sandhed upartisk og nevtralt"), und
es sei "interessant", die Unterschriften von Branting, Troelstra, Borgbjerg und
Vidnes nebeneinander stehen zu sehen.