Stück zur Sowjetunion

RAF Document ID
0019760119
Author
Gudrun Ensslin
Date
19.1.76
Source
Originalkopie
Text

eine der sprachregelungen der unsere erklärung verfälschenden berichterstattung der nachrichtenagenturen war, wir hätten uns "von der sowjetunion distanziert" -
dazu ist zu sagen:

1.
die behauptung ist falsch. wir haben überhaupt nicht von der sowjetischen politik gesprochen - auch deswegen nicht, weil es absurd wäre und nicht unsere sache ist, hier urteile, beurteilungen, meinungsäusserungen abzugeben, die für unsere politik belanglos sind und so die sache, die zu vermitteln ist - den begriff proletarischer politik in einem vom imperialismus total besetzten und durchdrungenen land - nur verwirren kann.
proletarische politik ist die bewusste artikulation, die bewaffnete interpretation des widerspruchs im imperialismus -
den das kapital im widerspruch zwischen produktion und verwertung im inneren und dem expansionszwang nach aussen entwickelt und sich politisch zum kontrahenten, feind, gegensatz, antagonist macht - national und international.

wir haben die historische und aktuelle dialektik zwischen der befreiungsfront an der peripherie und der entwicklung des klassenkampfes - der demarkationslinie zwischen arbeit und kapital - in den metropolen, die sie zur front entwickelt, erklärt. (über die demarkationslinie zwischen sozialistischem lager und imperialistischem block haben wir nicht gesprochen.) wir haben so revolutionäre politik inhaltlich bestimmt, in erster linie aus der analyse der kapitalbewegung in der imperialistischen metropole bundesrepublik in ihren internationalen bedingungen.

wir haben also bewusst darauf verzichtet, hier im einzelnen die amerikanische aussenpolitik, ihre taktischen schritte in süd-ost-asien, im nahen osten, in afrika, in lateinamerika und westeuropa zu analysieren, so auch darauf, den widerspruch zwischen kpch und kpdsu.

wörtlich haben wir gesagt:
"schon tatsache ist, dass die beiden grossen systeme nicht mehr für die beiden kämpfenden klassen stehen - es gibt keinen staat mehr anstelle von klassen. was als eine krise des klassenbegriffs erscheint ist die krise des staates, die krise der institutionellen strategie, damit die krise der politischen führung des klassenkampfs, krise der klassenorganisationen des kapitals im staat und des proletariats in den parlamentarischen, bürokratischen kommunistischen parteien westeuropas. es ist eine übergangsphase, ein transitorischer moment der neuzusammensetzung der bourgeoisie und der proletarischen organisation, in dem sich der zusammenstoss verschärfen muss und neue formen, neue kampfmethoden, die das gleichgewicht brechen, entwickelt.
in diesem moment hat eine strategische neuorientierung des proletarischen internationalismus notwendig die form einer antizipatorischen initiative, die der konsolidierung der kapitalistischen strategie auf der ebene des staates zuvorkommen soll,
indem sie angreift, im angriff die entwicklung interpretiert."

2.
wir sind so dazu gekommen, die politik der revisionistischen parteien, parteiversuche in der bundesrepublik abzulehnen und zwar [sowohl] die am falsch rezipierten chinesischen revolutionsmodell - falsch, insofern sie die kulturrevolution nicht reflektieren - wie an der sowjetischen aussenpolitik orientierten organisationen, als den objektiven notwendigkeiten revolutionärer politik hier nicht angemessen.
zu dem leninschen organisationsmodell: die partei, die den bewaffneten aufstand organisiert, haben wir nur festgestellt: "die erfahrung der minoritären und zentralisierten revolutionären partei, die die massenaktion von aussen und oben führt, statt in und aus ihr kämpfend zu entstehen, sich zu reproduzieren und sich zu entwickeln, kommt aus einer zeit, die für kampf- und organisationsformen noch nicht reif war, die der direkte angriff gegen den imperialistischen staat sind - als funktion der einheit an allen fronten."

über die dkp haben wir überhaupt nicht gesprochen. sie war in der bundesrepublik bis jetzt nichts als eine der vermittlungen sozialdemokratischer politik und der gewerkschaften als teil des staatsapparats zur entpolitisierung der arbeiterkämpfe. legal konnte sie im parteiensystem der bundesrepublik nur wieder werden als funktion des staates, weil sie der bourgeoisie als katalysator der protestbewegung nützlich schien. als eine deutsche kommunistische partei, die dem nach innen und aussen aggressivsten staat des kapitals, im strategischen zentrum des antikommunismus als selbstverständnis nur entgegenzusetzen hat: "wir wollen zeigen, dass wir kommunisten auch menschen sind", ist sie eine denunziation kommunistischer politik.

3.
auf eine analyse der struktur und politik der chinesischen kommunistischen partei in der chinesischen revolution haben wir uns nicht eingelassen aus dem einfachen grund, weil noch keine revolutionäre organisation einem technisch so hochentwickelten und psychologisch durchkonstruierten repressionspotential gegenüberstand, wie die guerilla in den metropolen. man kann auch sagen: wir teilen die dritte-welt-romantik der china-apologeten nicht.
wir haben gesagt: "vietnam ist die friktion in der strategie des kapitals, an der die internationale arbeiterbewegung die initiative zurückgewinnen konnte. hier insistiert das kapital auf dem kräfteverhältnis und hier stösst es in der historischen katastrophe des militärischen zusammenbruchs seiner ordnung der 3.welt auf die politische grenze seiner entwicklung: die revolutionäre klasse im befreiungskrieg. in der paralyse einer machtstruktur, die den ganzen imperialistischen apparat in schach hält, kann die chinesische kulturrevolution eine neue begründung des revolutionären voluntarismus - der basis- und masseninitiative zeigen. beide linien: befreiung im krieg und wiederaufnahme des kommunistischen angriffs sind die bedingung der neuen linken. sie sind auch die subjektiven faktoren, die die insurrektion in den metropolen bestimmen.

dann ging durch die nachrichtenagenturen, wir hätten uns von "jeder art sozialistischer politik in der geschichte und heute" distanziert.
dazu:

4.
die erfahrung in den metropolen seit 1917 ist, dass sozialistische politik - klar definiert bei marx, lenin, luxemburg, gramsci - als eine politik, die den prozess der totalen umwälzung der produktionsverhältnisse vom prozess der eroberung der macht trennt und so darauf zielt, den staat des kapitals als instrument zur verstaatlichung der produktionsmittel als übergang zum kommunismus zu benutzen, also ihre strategie auf ein taktisches ziel reduziert, den revolutionären prozess blockiert. sie blockiert ihn durch bürokratismus, parlamentarismus, entpolitisierende taktische kalküle, funktionärstum; es ist eine taktische position, die aus sich nicht kommunistische politik werden kann, das heisst, nicht zum bruch mit der imperialistischen mentalität - konkurrenz, konsumfetischismus, apparatdenken kommen kann und so herrschaft, dysfunktional zu den wirklichen prozessen an der basis bleibt. als arbeiterpolitik ist sie defensiv.

hier ist nochmal an rosa luxemburgs rede auf dem gründungsparteitag der kpd zu erinnern und an lenins staat und revolution, die beide unter berufung auf marx, 1848, das kommunistische manifest, die unmittelbare umwälzung wollten - kommunistische politik jetzt.

begriffloser unsinn ist so auch die kolportage, wir hätten uns von marx "distanziert". wir haben die marxsche analyse und methode auf die heutige situation angewendet, nicht übertragen, sondern angewendet. nur ein idiot kann ernsthaft der meinung sein, die marxsche analyse des kapitals und der marxsche begriffsapparat seien überholt. sie werden es für das verständnis der unmittelbaren gegenwart sein, wenn das system: kapitalismus, das er durchdacht hat, abgeschafft sein wird. wir haben auch deswegen ausführlich über den charakter proletarischer wissenschaft gesprochen.

5.
sozialismus, sozialistische politik - innerstaatlich und international als zwischenstaatlichkeit und organisierung der durchdringung und dominanz staatstragender parteien ist heute exakt der begriff für die politik, die die spd macht. das ist die fortgeschrittenste und so reaktionärste linie des internationalen us-kapitals, als eine naturnotwendigkeit seiner reproduktion und expansion. die klassenvorzeichen sind umgekehrt: statt diktatur des proletariats diktatur des us-kapitals. sie ist die form der faschisierung, die den genuinen ausdruck der sozialen bewegung usurpiert, aber sie ist keine usurpation sozialistischer politik wie der alte faschismus.
die sozialdemokratie folgt als politische organisation der arbeit für das kapital der reaktionären logik von kautzkys imperialismus-apologie: dem modell des ultraimperialismus. jetzt, als das projekt der rekonstruktion der politik des kapitals in der strategischen defensive, ist ihre aktuelle funktion die faschisierung der westeuropäischen peripherie und der bürgerlichen demokratie in den zentren. das läuft auf zwei ebenen: an politische auflagen gebundene kredite schleppen die kombination von polizeitechnologie und direktinvestitionen, die die internationale arbeitsteilung entwickeln und das eigentum und die kontrolle unter der hegemonie des us-kapitals zentralisieren.

angesichts der tendenz zum antagonismus zwischen produktion und verwertung im imperialismus, der institutionellen lösung des ziel-mittel-konflikts der kapitalistischen produktionsweise und der vergesellschaftung der produktion in der metropole - angesichts der repressiven durchstrukturierung der metropolengesellschaften durch den staat und der dem stand der produktionskräfte entsprechend verwissenschaftlichten repressionstechniken und repressionspotentiale - muss revolutionäre politik heute kommunistische politik sein und kann proletarische politik nur als bewaffnete politik, die sich selbst organisiert und aus ihren konkreten bedingungen strategie wird - die politik des proletariats werden. das ist die situation.

an ihr ist die instrumentalisierung der maoistischen sekten in der bundesrepublik für die linie: hauptfeind udssr, stärkung der nato, objektiv reaktionär. ihr skuriller antikommunismus ist auf die neutralisierung des sich entwickelnden antiamerikanismus aus und versperrt die erkenntnis der entwicklung des kräfteverhältnisses zwischen revolution und imperialismus, des interkontinentalen prozesses, in dem und aus dem die guerilla in der metropole kämpft. solange sie auf der obskuren linie der vaterlandsverteidigung ausgerechnet in den schuhen der chauvinistischen variante des revanchismus den massen nachlaufen, hier die stärkung der nato und in der ddr illegalen kampf propagieren, wiederholt sich in ihrer instrumentalisierung für die kpch die tragödie der parteien der 3. internationale in der krise 1929-33 als farce. die ebene, auf der die realen möglichkeiten einer antifaschistischen bündnispolitik - der des widerstands - liegen, haben sie längst verlassen: die formen der defensive, die sie organisieren wollen, antizipieren die niederlage nicht mal, sie sind die niederlage bevor gekämpft wurde.

die behauptung, wir hätten uns von der sowjetischen aussenpolitik distanziert, unterstellt unserer analyse ideologischen, proklamatorischen, schliesslich rechtfertigungscharakter. das alles ist falsch, lächerlich. wir beziehen die tatsachen, die die sowjetische politik schafft, in unsere analyse ein, um den revolutionären standpunkt gegen das kapital hier praktisch zu entwickeln. das ist unser verhältnis dazu.

revolutionäre politik ist die negation der politik des kapitals - hier und jetzt des internationalen monopols des stärksten, des us-kapitals; sie ist nur durch kampf, den bewaffneten angriff, die taktik, die in jedem moment und jeder aktion die strategie - befreiungskrieg - antizipiert, zu entwickeln. sie entwickelt sich, indem sie den staat als die monströse gewaltmaschine, in der sich der profitmechanismus nur noch reproduzieren kann, direkt angreift. die überdeterminierte reaktion entwickelt einen dialektisch vollkommen in den widerstand integrierten begriff der revolution, revolutionärer moral, autonomer taktik und organisation.

oder hier: revolutionäre identität, proletarischer internationalismus behauptet sich nicht über distanzierungen, sondern durch die intitiative, wirkung, spur ihrer politik.
auch in dieser lage.

gudrun am 19.1.76 in stammheim