Schulz, Günther (Hrsg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945. Bd. 3: Bundesrepublik 1949-1957. Bewältigung der Kriegsfolgen, Rückkehr zur sozialpolitischen Normalität. Baden-Baden: Nomos Verlag 2006. ISBN 3-7890-7317-2; 1.151 S. + 1 CD-ROM; EUR 169,00.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Wolfgang Ayaß, Universität Kassel
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In der vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Bundesarchiv gemeinsam herausgegebenen elfbändigen "Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945" liegen nunmehr drei Bände für die frühen Nachkriegsjahre vor. Der die Jahre 1945 bis 1949 umfassende (gesamtdeutsche) Band 2 ist bereits vor fünf Jahren erschienen. Der erste von drei DDR-Bänden, der die Jahre 1949 bis 1961 umfasst, wurde als Band 8 im Jahr 2004 ausgeliefert, nun ergänzt durch sein bundesrepublikanisches Gegenstück, das vier Jahre früher endet.[1]
Bandverantwortlicher – und damit auch Verfasser der insgesamt gut 200 Druckseiten umfassenden Einleitungs- und Schlusskapitel – ist Günther Schulz, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Bonn. Die 17 Einzelkapitel, die das sozialpolitische Spektrum weitgehend abdecken, sind von insgesamt 24 Autorinnen und Autoren verfasst.[2] Die über sämtliche Bände der Edition durchgehaltene Gliederungsstruktur hat leider verhindert, dass im vorliegenden Band die Folgen von Flucht und Vertreibung zusammenhängend dargestellt worden wären (immerhin die – neben dem Wiederaufbau der zerstörten Städte – wohl wichtigste sozialpolitische Herausforderung der Nachkriegsgesellschaft). Diese Thematik verteilt sich über die Einzelkapitel des gesamten Bandes. Die Unterkapitel, die hier nicht alle besprochen werden können, sind hinsichtlich des theoretischen Zugriffs und des verwendeten Quellenmaterials notwendigerweise unterschiedlich. Man kann sie jedoch durchweg auch einzeln lesen, d.h. die Nutzer des Bandes können direkt auf ihr jeweiliges Interessengebiet zugreifen.
Der Untersuchungszeitraum von Band 3 umfasst die beiden ersten Legislaturperioden des Bundestags. In den ersten vier Jahren des Bestehens der Bundesrepublik stand in der Gesetzgebung zur Wohnungspolitik, zum Lastenausgleich, zur Kriegsopferversorgung, zur Wiedergutmachung etc. die Bewältigung von Kriegsfolgen im Vordergrund, während in der zweiten Legislaturperiode dann eher strukturelle Entscheidungen getroffen wurden, allen voran die Rentenreform von 1957 (S. 77). Das Bundesarbeitsministerium, das der christliche Gewerkschafter Anton Storch von 1949 bis 1957 leitete, war dabei das sozialpolitische Schlüsselressort. Sozialpolitische Gesetze wurden im Berichtszeitraum nicht selten von einer breiten Parlamentsmehrheit getragen. Die Fronten verliefen meist nicht strikt zwischen Regierungskoalition und Opposition.
Die Gründung der Bundesrepublik im Jahr 1949 war für fast alle sozialpolitischen Bereiche ein wichtiges Datum, denn die Gesetzgebungskompetenz des Bundes schuf nun zumindest die Möglichkeit, die in der Zeit der Besatzungszonen entstandene vielfältige Zersplitterung der sozialpolitischen Gesetzgebung wieder zurückzudrängen. Zudem war nun die lähmende Zeit vorbei, in der Entscheidungen grundsätzlicher Art zurückgestellt wurden. Der konkrete Weg war zwischen den sozialpolitischen Akteuren allerdings überaus strittig. Die Einzelkapitel des Bandes liefern hierfür viele Beispiele. Doch die relative Offenheit der zeitgenössischen Debatten und Vorschläge trügt. Im Ergebnis griff man in fast allen Bereichen auf Institutionen und Verfahren zurück, die in Deutschland bereits bestanden bzw. vor der Zeit des Nationalsozialismus bestanden hatten, teilweise sogar unter Rückbau von Veränderungen, wie bei der wieder abgeschafften Einheitsversicherung im Westteil Berlins. Mithin war die Entwicklung in Westdeutschland – ganz im Gegensatz zu derjenigen in der SBZ/DDR – durch eine weitgehende Pfadabhängigkeit gekennzeichnet. Dies geschah allerdings – so die interessante Einschätzung des Bandherausgebers Günther Schulz – unter vielfältiger Modifikation, so dass "im Ergebnis etwas Neues entstand, das wiederum Eigendynamik entfaltete" (S. 951).
Seit Beginn der 1950er-Jahre wurde "Sozialreform" zum viel strapazierten Zauberwort (S. 332, S. 383). Eine umfassende "Sozialreform" wurde von vielen Seiten gefordert, wissenschaftlich diskutiert und auch von der Adenauer-Regierung wiederholt angekündigt. Doch die weitgefasste "Sozialreform" verengte sich bald auf eine – allerdings tiefgreifende – Rentenreform. Das von dem Bremer Professor für Volkswirtschaftslehre Winfried Schmähl verfasste Kapitel "Sicherung bei Alter, Invalidität und für Hinterbliebene" ist das mit 77 Seiten längste und wohl auch wichtigste Unterkapitel des Bandes. Schmähl zeichnet die Debatten und Entscheidungsprozesse der Adenauerschen Rentenreform akribisch nach. Diese Reform war in zweifacher Hinsicht tiefgreifend und epochemachend: Sie brachte zum einen – kurz vor der Bundestagswahl – eine ganz erhebliche Erhöhung der Renten und koppelte zum anderen die weitere Entwicklung der Rentenhöhe an die Lohnentwicklung, d.h. die Rentenzahlungen wurden automatisch "dynamisiert". Die Rentenreform des Jahres 1957 war ein Meilenstein im langen Prozess der mittlerweile gelungenen Zurückdrängung der Altersarmut. Hinsichtlich der sozialpolitischen Langzeitentwicklung in der Bundesrepublik bildete die Adenauersche Rentenreform die wichtigste gesetzgeberische Weichenstellung (von Schmähl als Paradigmenwechsel eingeschätzt), für die Begriffe wie "Epochenzäsur" und "sozialpolitische Großtat" gängig waren und sind (S. 434). Frappierend ist dabei die weitgehende Abkoppelung der deutschen Diskussionen vom internationalen Diskurs. Die deutschen Akteure glaubten tatsächlich, sie hätten die – woanders schon praktizierte – dynamische Rente selbst erfunden (S. 390).
Die Münchener Politikwissenschaftlerin Ursula Münch analysiert in einem weiteren Unterkapitel die langwierigen und komplizierten Auseinandersetzungen um die Familienpolitik und den Familienlastenausgleich. Während Sozialdemokraten und Gewerkschaften Zahlungen schon für das erste Kind forderten, wollten die Christdemokraten dies erst ab dem dritten Kind gewähren. Dabei standen nicht fiskalische Erwägungen im Vordergrund, sondern die Grundposition des politischen Katholizismus, dass die Familie Kern der Gesellschaft sei und niemals zum Sozialfall gemacht werden dürfe. Der gewöhnliche Lohn des Familienvaters müsse so bemessen sein, dass er für eine normale Familie ausreiche. Nach französischem Vorbild favorisierte die Adenauer-Regierung folgerichtig zunächst Kindergeldzahlungen als Lohnbestandteil, zugewiesen über Familienausgleichskassen, für die vorübergehend die Berufsgenossenschaften zuständig waren. Doch dies blieb Episode – schon deshalb, weil die Berufsgenossenschaften noch nicht einmal alle abhängig Beschäftigten erfassten. Bald setzten sich steuerrechtliche und somit rein staatliche Kindergeldzahlungen durch.
Auch im Bereich von Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht (das Unterkapitel wurde von dem Regensburger Arbeitsrechtler Reinhard Richardi verfasst) brachten die Anfangsjahre der Bundesrepublik wichtige Weichenstellungen, die im Ergebnis dazu führten, dass Deutschland bis heute kein einheitliches Arbeitsgesetzbuch kennt – mit dem Richter als eigentlichem Herrn des Arbeitsrechts im Allgemeinen und dem Streikrecht im Besonderen. Die arbeitsrechtliche Ordnung ist seit den Gründungsjahren durch eine Vielzahl von Einzelgesetzen geprägt, und weite Bereiche sind gesetzlich überhaupt nicht geregelt (S. 194). Das Betriebsverfassungsgesetz von 1952 wurde von den Gewerkschaften als Niederlage empfunden, deren weitergehende, sich an der Montanmitbestimmung orientierenden Forderungen unerfüllt blieben.
Mehr noch als in anderen Politikbereichen war die DDR in der Sozialpolitik permanenter negativer Bezugspunkt; der Systembezug zur DDR blieb stets präsent (S. 949). Alles, was die DDR praktizierte – etwa Einheitsversicherung oder Ambulatorien –, konnte schon allein deswegen im Westen nicht eingeführt werden. Außerdem musste die Bundesrepublik in jeder sozialpolitischen Detailfrage besser sein als die "Zone". Im Kalten Krieg – so der SPD-Sozialexperte Ludwig Preller – "entscheiden die Bataillone der besseren Sozialleistungen" (S. 383). Jede innenpolitische Entscheidung von Gewicht wurde auf ihre Konsequenzen hinsichtlich des politischen Wettbewerbs mit dem östlichen System geprüft.Trotz aller Rückgriffe auf Traditionen aus der Zeit des Kaiserreichs bzw. der Weimarer Republik und ganz verschämt auch auf einige in der NS-Zeit entstandene Ideen ging die sozialpolitische Gesetzgebung jedoch in recht vielen Bereichen hinsichtlich der Leistungen wie auch des einbezogenen Personenkreises bald weit über das frühere Niveau hinaus. Damit – so das Fazit des Bandherausgebers – trug die Sozialpolitik entscheidend zur weitgehenden Akzeptanz der Bundesrepublik in der Bevölkerung bei, "verstanden als Wiederherstellung gesicherter, stabilerund berechenbarer Verhältnisse" (S. 960).
Wie die anderen Bände enthält auch der vorliegende Band einen Dokumententeil, der auf CD-ROM beiliegt.[3] Ein Verzeichnis der 199 Dokumente befindet sich im Anhang des Bandes, was eine erste Orientierung erleichtert. Etwa die Hälfte der ausgewählten Quellen stammt aus Ministerialakten des Bundesarchivs und wird hier erstmals publiziert. Wir finden aber auch schon zeitgenössisch veröffentlichte Quellen wie Gesetzestexte, Denkschriften und Zeitungsartikel bis hin zu einem Flugblatt des Landesarbeitsamts Südbayern gegen Schwarzarbeit.
Anmerkungen:
[1] Vgl. die Rezensionen der bisher erschienenen Bände in H-Soz-u-Kult: von Uwe Kaminsky über Band 1 und 2 ([url]http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-032[/url]), von Jens Gieseke über Band 8 ([url]http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-116[/url]) sowie von mir über Band 7 ([url]http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-044[/url]).
[2] Zur Gliederungsstruktur der Edition vgl. meine Rezension von Band 7.
[3] Die CD-ROM umfasst auch die Dokumente des Bandes 2, die noch in Buchform erschienen waren (dies wurde für die weiteren Bände aufgegeben).
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