Studer, Brigitte; Haumann, Heiko (Hrsg.): Stalinistische Subjekte /Stalinist Subjects /Sujets staliniens. Individuum und System in der Sowjetunion und der Komintern, 1929-1953. Zürich: Chronos Verlag 2006.ISBN 3-034-00736-1; 556 S.; 44,80 EUR.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Sandra Dahlke, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr HamburgE-Mail: [mailto]dahlke@hsu-hh.de[/mailto]
Während des Kalten Krieges stellte sich den meisten westlichen Zeitgenossen die Sowjetunion als abgeschottete graue Welt des Kollektivs dar, in der der einzelne Mensch keine Entfaltungsmöglichkeit finden konnte. Sie erschien als repressives vertikales Machtgefüge, dem nur einige mutige Dissidenden Widerstand entgegenzusetzen vermochten. Auch wenn diese Vorstellungen in Teilen zugetroffen haben mögen, beruhten sie doch eher auf ideologisch motivierten Vorurteilen als auf wissenschaftlich begründeten Urteilen, denn das wissenschaftliche Interesse an der konkreten Selbst- und Weltwahrnehmung sowjetischer Menschen hielt sich bis auf wenige Ausnahmen in Grenzen.[1] Der sowjetische Mensch wurde in der Totalitarismustheorie vielmehr a priori und ausschließlich als Objekt repressiver Herrschaft und seit den 1970er-Jahren durch Vertreter der revisionistischen Sozialgeschichte auch als rationaler, vom eigenen Interesse geleiteter und aufstiegswilliger Akteur konzeptualisiert.[2]
So gehören die Arbeiten meist jüngerer Wissenschaftler, die sich mit der Geschichte der Subjektivität sowjetischer Menschen auseinandersetzen, zu den wichtigsten und erstaunlichsten Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre in der Historiographie über die Sowjetunion und insbesondere den Stalinismus.[3] Die neuen Forschungen sind nicht nur deshalb so wichtig, weil sie Phänomene von Subjektivität im engeren Sinne untersuchen, sondern weil sie durch das Prisma der Subjektivität unsere Kenntnisse über Funktions- und Wirkungsmechanismen von Herrschaft, die Voraussetzungen und Akzeptanz von Terror und damit die Überlebensfähigkeit eines Krisenregimes wesentlich erweitert haben.
Der zu besprechende Sammelband steht in diesem Kontext. Seine Herausgeber erheben in der instruktiven Einleitung den Anspruch, eine Zwischenbilanz der bisherigen Forschungen zur Subjektivität im Stalinismus zu ziehen, die Anwendbarkeit sozial- und kulturgeschichtlicher Methoden für die Erschließung des Politischen auszuloten und die beiden weitgehend getrennt voneinander operierenden Forschungsbereiche der Osteuropäischen Geschichte und der politologisch orientierten historischen Kommunismusforschung zusammenzuführen.
Der Sammelband setzt sich aus 23 deutsch-, englisch- und französischsprachigen Beiträgen zusammen. Im ersten Teil geht es um die sowohl repressiven als auch motivierenden Techniken, mit denen die Führung von Partei und Staat versuchte, die Bevölkerung in Momenten wirtschaftlicher und sozialer Krisen, insbesondere in der Zeit des ersten Fünfjahrplans, zu großen Anstrengungen zu mobilisieren. Die Beiträge von Dietmar Neutatz über die Mobilisierung der Menschen und deren Arbeitskraft auf den Großbaustellen, von Vera Spiertz über den Einsatz junger Rotarmisten bei der Kollektivierung, von Donald Filtzer und Jean-Paul Depretto über die Industriearbeiter, von Gabor Rittersporn über die Haltung der sowjetischen Bevölkerung gegenüber dem Regime und seinen Repräsentanten und von Nicolas Werth über den sozialen und wirtschaftlichen Kontext der 1947 erlassenen Gesetze gegen den Diebstahl staatlichen Eigentums zeigen, dass die Reaktionen der Bevölkerung auf diese Mobilisierungsbemühungen sehr unterschiedlich waren. Sie reichten von Enthusiasmus und bedingungslosem Integrations- und Identifikationswillen über Zweifel, Kritik und situationsbedingte Empörung bis hin zu Frustration und Desillusionierung. Aus allen Beiträgen geht jedoch hervor, dass Widerstand als bewusste, organisierte politische Haltung weitgehend fehlte bzw. nicht möglich war. Rittersporn betont, dass der hohe Grad an Frustration und Resignation, den die meisten AutorInnen konstatieren, weniger durch eine bewusste politische Haltung bedingt war. Vielmehr resultierte dieser aus den ständigen, selbst für überzeugte Kommunisten oft unkalkulierbaren politischen Kurswechseln, dem hohen Maß an politischer und sozialer Instabilität und schließlich aus dem Unvermögen des Regimes, seine Versprechungen einzulösen.
Die Beiträge von Yves Cohen, Brigitte Studer, Alexander Vatlin, Igal Halfin, Claude Pennetier, Bernard Pudal, Serge Wolikow und José Gotovitch setzen sich mit den institutionellen Praktiken auseinander, die für die Subjektkonstituierung, Einbindung, Erfassung und Kontrolle von sowjetischen und ausländischen Parteikadern maßgeblich waren. Cohen, Studer, Halfin, Pennetier und Pudal vertreten die These, dass der sowjetische Machtapparat durch eine spezifische Handlungslogik gekennzeichnet war, die das Selbst als Ressource eben dieses Machtapparats beanspruchte und mobilisierte. Sie zeigen, wie sich die einzelnen Akteure durch ihre Interaktion miteinander an den destruktiven Ordnungsprozessen beteiligten und helfen zu erklären, warum sich Menschen aktiv in ein System integrierten, von dem sie selbst in höchstem Maße bedroht wurden. Bemerkenswert an diesen Beiträgen ist ihr methodisch reflektierter und produktiver Umgang mit den Quellen: Die Korrespondenz zwischen einzelnen Parteiführern, Protokolle von Selbstkritiksitzungen und Selbstauskünfte von Kadern werden nicht so sehr in ihrer Eigenschaft als Texte, das heißt im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen faktischen Informationen ausgewertet, sondern vielmehr als funktionaler Bestandteil der politischen Praxis, das heißt von Handlungen verstanden. Der Beitrag von Beate Fieseler über die Frauenkonferenz des Zentralkomitees 1950 macht aber, ähnlich wie der von Gabor Rittersporn, deutlich, dass durch diese institutionalisierten Kontroll-, Exklusions- bzw. Integrationspraktiken Widerspruch nicht vollständig ausgeschaltet werden konnte.
Die Texte von Monica Rüthers über die Architektur und das Alltagsleben einer Moskauer Prachtstraße zwischen 1928 und 1953, von Mary Buckley über die Stoßbrigadistin und Traktorfahrerin Pascha Angelina und von Juliane Fürst über Jugendkultur in der Nachkriegszeit vermitteln ein Bild davon, wie sowjetische Menschen mit den staatlichen Vorgaben idealer Lebens- und Verhaltensformen umgingen. Die Haltung der meisten Zeitgenossen schwankte zwischen Indifferenz, Eigensinn, Anpassung und Provokation. Diese uneindeutigen Verhaltensweisen wurden jedoch, wie Juliane Fürst anschaulich zeigt, häufig von den Vertretern des Regimes als Ausdruck von politisch motiviertem Dissens fehlgedeutet.
Heiko Haumann, Sergej Zhuravlev, Eva Maeder, Carmen Scheide und Kaline Hoffmann beschäftigen sich mit der Erfahrung und Verarbeitung von Gewalt sowie mit der Bedeutung von Erinnerung für die Konstituierung und Stabilisierung bzw. Gefährdung von Identität. Ausgehend von Interviews mit Gewaltopfern verknüpfen Haumann und Maeder die konkreten Gewalterfahrungen mit den verschiedenen Ebenen des Erinnerns bzw. Ausblendens dieser traumatischen Erfahrungen. Scheide und Hoffmann analysieren am Beispiel der veröffentlichten Erinnerungen der Journalistin Irina Erenburg, der Fliegerin Marina Tschetschnewa und des polnischen Lagerhäftlings Gustaw Herling-Grudzinski das Verhältnis von individueller und kollektiver Erinnerung und die entsprechenden narrativen Strategien. Sie stellen heraus, dass beide Formen der Erinnerung eines "Gruppengedächtnisses" bedürfen. Sergej Zhuravlev rekonstruiert in seinem Beitrag das bisher nahezu unbekannte Schicksal amerikanischer Staatsbürger, die in den 1920er- und 1930er-Jahren in die Sowjetunion emigrierten.
Jutta Scherrer schlägt in ihrem Nachwort den Bogen zur Gegenwart und illustriert am Beispiel des neuen Unterrichtsfachs "Kulturologie", dass die Putinsche Geschichtspolitik sich einer grundlegenden Auseinandersetzung mit der Gewalttätigkeit des Stalinismus verweigert und stattdessen auf der Identitätssuche an die dominanten Ideologeme des "russischen Denkens" im 19. Jahrhundert, insbesondere an den dort konstruierten Gegensatz zwischen Russland und dem Westen, anknüpft.
Es ist ein Verdienst des Sammelbands, dass durch die unterschiedlichen Beiträge die Heterogenität der Erfahrungen und Identitäten sowjetischer Menschen sowie die Spannbreite von Anpassung und Kritik gegenüber den Verheißungen und Zumutungen des bolschewistischen Regimes deutlich hervortreten und somit einige Generalisierungen in Forschungen zur "sowjetischen Subjektivität" relativiert werden können. Einige der Aufsätze sind methodisch sehr anregend: Sie analysieren überzeugend die gegenseitige Bedingtheit von Subjektkonstitution und der Ausbildung und den Funktionsmechanismen des Herrschaftsapparats und demonstrieren, wie bestimmte Quellenarten, die nicht im engeren Sinne als Selbstzeugnisse gelten können, für die Analyse der Selbst- und Weltwahrnehmung von Menschen fruchtbar gemacht werden können. Ärgerlich ist lediglich, dass man einige der Beiträge teilweise schon mehrfach in ähnlicher Form an anderen Orten lesen konnte.
Letztlich bleibt aber eine Frage offen, die der etwas plakative Titel des Sammelbands aufwirft: Was ist das Stalinistische an den "stalinistischen Subjekten" bzw. waren die Modi der Subjektkonstituierung tatsächlich stalinistisch? Die Beiträge des Sammelbands, in denen es im engeren Sinne um Subjektivität geht, nehmen zumeist eine synchrone, am symbolischen Interaktionismus orientierte Perspektive ein. Lediglich Eva Maeder analysiert in einer diachronen Perspektive die Wirksamkeit langlebiger Biografiemuster bei der Selbstkonstituierung eines nicht ganz stalinistischen Subjekts.
Anmerkungen:
[1] Inkeles, Alex; Bauer, Raymond, The Soviet Citizen: Daily Life in a Totalitarian Society, Cambridge 1959.
[2] Fitzpatrick, Sheila, Education and Social Mobility in the Soviet Union, 1921-1934, Cambridge 1979.
[3] Hellbeck, Jochen (Hrsg.), Tagebuch aus Moskau, 1931-1939, München 1996; ders., Fashioning the Stalinist Soul: The Diary of Stepan Podlubnyj (1931-1939), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 344-373; ders., Revolution on my Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge 2006; Halfin, Igal, From Darkness to Light. Class, Consciousness and Salvation in Revolutionary Russia; Garros, Véronique (Hrsg.), Das wahre Leben: Tagebücher aus der Stalin-Zeit, Berlin 1998; Lahusen, Thomas, How Life Writes the Book: Real Socialism and Socialist Realism in Stalin’s Russia, Ithaca, London 1997; Schattenberg, Susanne, Stalins Ingenieure: Lebenswelten zwischen Technik und Terror in den 1930er Jahren, München 2002; Fitzpatrick, Sheila; Slezkine, Yuri (Hrsg.), In the Shadow of Revolution: Life Stories of Russian Women from 1917 to the Second World War, Princeton 2000; Studer, Brigitte (Hrsg.), Parler de soi sous Staline: la construction identitaire dans le communisme des années trente, Paris 2002; Wellmann, Monica, Zwischen Militanz, Verzweiflung und Disziplierung: Jugendliche Lebenswelten in Moskau 1920-1930, Zürich 2005.
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