Unfried, Berthold; Mittag, Jürgen; van der Linden, Marcel; Himmelstoss, Eva (Hrsg.): Transnationale Netzwerke im 20. Jahrhundert. Historische Erkundungen zu Ideen und Praktiken, Individuen und Organisationen (= ITH-Tagungsberichte 42). Leipzig: AVA-Akademische Verlagsanstalt 2008. ISBN 978-3-931982-57-7; 332 S.; EUR 25,00.
Rezensiert für geschichte.transnational und H-Soz-u-Kult von:
Steffi Franke, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO), Universität Leipzig
E-Mail: [mailto]sfranke@uni-leipzig.de[/mailto]
Die beiden zentralen Begriffe im Titel des hier anzuzeigenden Bandes verweisen auf zwei getrennte, gleichwohl verwandte und miteinander in enger Beziehung stehende Diskussionszusammenhänge in den Sozial- und Geisteswissenschaften, die in den letzten Jahren zunehmend an Prominenz gewonnen haben. Beide können in die wissenschaftliche Bewegung im Gefolge des spatial turn und der sich intensivierenden Forschung zu Geschichte, Formen und Bedingungen von Globalisierung eingeordnet werden. Sie reagieren mit ihr auf das wachsende Unbehagen an der Staatsfixiertheit innerhalb der beiden disziplinären Formationen, also auf die lange wirksame Privilegierung von an den Nationalstaat geknüpften Territorialitätsvorstellungen einerseits und von als hierarchisch geordnet erscheinenden Container-Räumen als Grundlage wissenschaftlicher Beschreibung und Analyse andererseits. In den Argumentationslinien, die sich sowohl um den Begriff der Transnationalisierung als auch um jenen des Netzwerks gruppieren, stehen im Gegensatz dazu Prozesse und Akteure im Zusammenspiel mit als historisch wandelbar verstandenen Strukturen im Vordergrund und werden bisher im Kontext des Nationalstaats erzählte Vorgänge in historisch länger zurückreichenden Prozessen von globalen Verflechtungen und Transfers verankert.
Den Herausgebern des Bandes, der auf zwei Konferenzen des ITH in Linz und Wien im Jahr 2007 zurückgeht, gelingt es, einen notwendigen Dialog im doppelten Sinne in Gang zu setzen: Zwischen den beiden Konzepten einerseits, zwischen den Disziplinen andererseits. Denn sowohl die Netzwerk- als auch die Transnationalisierungsforschung ist in denSozial- und Geisteswissenschaften in unterschiedlichen wissenschaftsgeschichtlichen Rhythmen und Kontexten entstanden und hat nicht unbedingt deckungsgleiche Konzeptualisierungen und Operationalisierungen hervorgebracht.[1] Die Beobachtung der sich verstärkenden Dynamik von De- und Reterritorialisierungsprozessen, an denen nicht-staatliche Akteure historisch und gegenwärtig einen erheblichen Anteil haben, wird von wachsenden Teilen der internationalen wissenschaftlichen Gemeinschaft bestätigt. Die Kombination der transnationalen historischen Perspektive mit dem Instrument der Netzwerkanalyse kann sich vor diesem Hintergrund als ein Weg zur forschungspraktischen Bewältigung der damit verbundenen Herausforderung erweisen. Jürgen Mittag und Berthold Unfried vermuten eingangs, dass "Grenzen und Grenzziehungen immer durchlässiger werden" (S. 9), "Entterritorialisierungs- und Entgrenzungsprozesse" (S. 11) zum Machtverlust des Nationalstaats beitragen und sich transnationale Netzwerke eindeutig von nationalstaatlichen Strukturen abgrenzen ließen. Möglicherweise lässt sich eher von einer Dialektik der De- und Re-Territorialisierung sprechen, Globalisierung und Nationalisierung mithin als historisch parallele und sich gegenseitig bedingende Bewegungen beschreiben.[2] Über die Plausibilität dieser Deutungsvorschläge wird sich die weitere Forschung verständigen. Die hier versammelten Beiträge skizzieren jedenfalls ein differenziertes Bild.
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