Die 11. Braunschweiger Gramsci-Tage nehmen das 150j. Erscheinungsjahr des ersten Bandes von Marx‘ Kapital und die 100j. Wiederkehr der russischen Revolution zum Anlass, die komplexen Beziehungen von revolutionärer Theorie und revolutionärer Praxis unter die Lupe zu nehmen. Sie wollen Reflexionen zur marxistischen Kritik der politischen Ökonomie und zur geschichtlichen Bedeutung der russischen Revolution zusammenbringen, um hieraus Erfahrungen für die gegenwärtige Situation zu ziehen.
1867 erschien der erste Band von Karl Marx‘ Kapital. Das Buch revolutionierte die Erkenntnisse über die Funktionsweise der kapitalistischen Produktion; eine Anleitung zur Revolution bietet es nicht. Die „dialektische Methode“ von Marx‘ Kritik der politischen Ökonomie aber wälzte das Wissen über ökonomische Gesellschaftsformationen gründlich um. Sie konnte die historischen Schranken der kapitalistischen Produktionsweise aufzeigen, die aus ihren eigenen Produktionsgesetzen resultieren.
Vor 100 Jahren traten die russischen Kommunisten den Beweis an, dass eine soziale Revolution auch gelingen kann, wenn die Bedingungen für eine höhere Stufe der Produktionsverhältnisse noch nicht voll entwickelt sind. Lenin entfaltete seine Theorie und Praxis in Analysen der russischen Gesellschaft, die weitgehend ohne die von Marx entwickelten Begriffe auskommen.
Gramsci interpretierte die russische Revolution als praktischen Beweis für die Wirksamkeit politischer Aktion gegenüber den von Marx im Kapital analysierten „mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen“: „Die Revolution der Bolschewiki ist mehr von der Ideologie als von den Tatsachen hervorgebracht worden … Sie war die Revolution gegen das Kapital von Karl Marx. … Die Bolschewiki … bestätigen mit der vollendeten Aktion, mit den realisierten Errungenschaften als Beweis, dass die Grundprinzipien des historischen Materialismus nicht so eisern sind, wie man hätte annehmen können …“ Er warnt davor, die russische Revolution als Modell aller zukünftigen Revolutionen zu erheben und verweist auf den Unterschied zwischen den revolutionären Umwälzungen im „Osten“ und den in den „fortgeschrittenen Staaten“ des Westens.
Die Oktoberrevolution leitete das „Jahrhundert der Extreme“ (Hobsbawm) ein. Die Systemkonfrontation wälzte Kampf- und Entwicklungsweisen des kapitalistischen und des sozialistischen Weltsystems um. Im Westen konstituierten Klassenkompromisse im restaurierten Kapitalismus einen zunehmend akademisierten „westlichen Marxismus“, während die Erfordernisse der Systemstabilisierung im Osten zu einer Verschmelzung von marxistischer Theorie und Macht tendierten, die den Marxismus in eine Legitimationswissenschaft für den Staatssozialismus verwandelte. Beide Formen sonderten einen Marxismus aus, der sich den ökonomisch-gesellschaftlichen Bedingungen der sog. „Dritte Welt“ widmete.
Die bürokratische Erstarrung der staatssozialistischen Gesellschaften und die dogmatische Verblendung des „Marxismus-Leninismus“ beendeten durch die Implosion ihrer Herrschaftsstrukturen 1989 das „kurze 20. Jahrhundert“ (Hobsbawm). Revolutionen gegen das Kapital waren von nun an wieder Sache des Kapitals selbst – als Konterrevolutionen, die die Klassenkompromisse aufkündigte, um „sich eine Welt nach … eigenem Bilde“ zu schaffen (Manifest der kommunistischen Partei) und nun als „konzentrierte gesellschaftliche Macht“ Krisentendenzen zu entfalten, die seine eigene Existenz in Frage stellen. Revolutioniert sich das Kapital also doch noch selbst?
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