Entgegen der landläufigen Meinung eines chaotischen Zustandes meint Anarchismus als politisch-philosophische Denkrichtung eine soziopolitische Ordnung, die frei von Herrschaft ist. Ausgehend von der theoretischen Konkretisierung und Prägung durch z. B. Proudhon, Bakunin, Kropotkin und Goldmann Mitte des 19. Jh. bis Anfang des 20. Jh. hielten anarchistische Ansätze vor allem durch die Philosophie und die politische Anthropologie Einzug in die Sozial- und Kulturwissenschaften. Trotz gesellschaftlicher Relevanz fand jedoch bis in jüngste Zeit Anarchismus als Denkrichtung in der Archäologie kaum Beachtung. Seit wenigen Jahren sind aber vorsichtige Annäherungen zu beobachten.
Das derzeit aufkeimende Interesse in der Anwendung anarchistischer Ansätze in der Archäologie basiert sowohl auf Untersuchungen im Feld der Kultur- und Sozialanthropologie (z. B. Graeber 2004; Morris 2005; Scott 2009; Macdonald 2012), der Infragestellung der Deutungshoheit der Wissenschaft (u. a. Feyerabend 1975), als auch auf der Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch die Ökonomisierung der Hochschulen. Anarchistischen Ansätzen liegen daher immer eine Machtanalyse und -kritik sowie die jeweiligen Formen des Widerstands und der Emanzipation zugrunde, sei es in der Vergangenheit oder beim Hinterfragen der eigenen Arbeitsweise. Diese Kritik mündete nach einzelnen archäologischen Aufsätzen (bspw. Angelbeck & Grier 2012; Flexner 2014; Morgan 2015) in den Foundations of an Anarchist Archaeology: A Community Manifesto des Black Trowel Collective (2016) sowie den Special Issues der Zeitschriften The SAA Archaeological Record (Prentiss 2017) und World Archaeology (Schofield 2017).
In unserem Workshop wollen wir daran anknüpfend zentrale Fragen anarchistischer Ansätze in der und um die Archäologie aufwerfen und gemeinsam debattieren. Da derartige Überlegungen in der deutschsprachigen Archäologie noch ein Novum bilden, haben wir uns für ein exploratives Format entschieden. Am Abend des 15.11. eröffnen wir den Workshop mit einer Podiumsdiskussion (Teilnehmer_innen werden noch bekannt gegeben), um erste Einblicke und Diskurse festzustellen. Der Workshop selbst setzt sich aus drei Teilen zusammen. Der erste umfasst die vorbereitende Lektüre eines vorab an alle angemeldeten Teilnehmer_innen versandten Readers mit relevanten Texten. Diese werden am ersten Tag besprochen und eine kollektive Mindmap erstellt. Sie soll im Laufe des Workshops sukzessiv ergänzt werden. Zweitens möchten wir dazu einladen und ermutigen, Impulsvorträge von max. 20 min. Dauer zu halten, um eure eigenen themenrelevanten Projekte und Erfahrungen zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen. Alternativ ist es auch möglich, mit der Vorstellung eines Posters (oder ein vergleichbares Format nach Absprache; Dauer max. 10 min.) zur eigenen Forschungsarbeit am Workshop zu partizipieren. Schließlich ist am zweiten Tag ein World Café vorgesehen, bei dem an verschiedenen Thementischen einzelne Felder anarchistischer Ansätze diskutiert, die Ergebnisse in Form von Tischnotizen festgehalten und anschließend im Plenum vorgestellt werden.
Folgende Themenbereiche wollen wir dazu ausloten (wir begrüßen jedoch ausdrücklich ebenso weitere Vorschläge, die selbstverständlich mit eingebunden werden können):
Anarchie und Emanzipation im Arbeitsalltag
Archäologie ist immer auch gesellschaftliche Praxis. Wie wir handeln, bestimmt auch, wie wir denken und vice versa. Wie können wir uns in der Spätmoderne als Subjekte emanzipieren und gleichzeitig herrschaftsfreie Formen des kollektiven und partizipativen Miteinanders bewahren? Welche Autoritätsformen sowie Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse des archäologischen Arbeitsalltags können kritisch gewendet und überwunden werden? Welche Rolle können Eigensinn und Subversion, Solidarität, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung in der Wissenschaft spielen?
Anarchistische Vergesellschaftungen: nichthierarchische & alternative Gesellschaftsformen
Welche vergangenen Gemeinschaften (Clubs, Kulte & Familien) und Gesellschaften (heterarchische, segmentäre & egalitäre) könnten in anarchistischer Lesart herrschaftsfrei gewesen sein? Gibt es sie jenseits des Idealtyps in der Form überhaupt oder müssen wir eher von Aspekten sprechen bzw. von Kombinationen verschiedener Modi soziopolitischer Ordnungsformate gleichzeitig und in Verschränkung zueinander ausgehen? Wie lassen sich Räume libertärer Prägung überhaupt identifizieren, wenn bisher vor allem auf Eliten, frühe Staatenbildung und Urbanisierungsprozesse fokussiert wurde? Welche Strategien wurden in der Vergangenheit möglicherweise verwendet, anarchistische Ordnungen zu etablieren und zu stabilisieren, hierarchische zu unterminieren oder soziopolitische Stratifizierung überhaupt erst zu verhindern? Auf welchen kollektiven Grundlagen beruhten sie und welche Subjekte produzierten sie? Wie lassen sich ökonomische, kulturelle und soziale Prozesse und Dynamiken in solchen Gesellschaften erkennen, beschreiben und mit welchen gesellschaftlichen Vorstellungen operieren wir bisher?
Wider den Methodenzwang: DIY-, Punk-, Counter- & Grassroots-Archaeologies
Archäologisches Forschen folgt (bisher) hierarchisch aufgebauten Methodologien. Diese ermöglichen immer nur spezifische Fragen, Methoden, Theorien und Antworten. Oder anders formuliert: die jeweilige Methodologie ist immer politisch und (re)produziert spezifische Autoritätsstrukturen. Wie müssten herrschaftsfreie Methodologien entworfen und umgesetzt werden, um eine anarchistische Gegenstruktur der Archäologie zu entwerfen? Wie kann das „Regime“ Wissenschaft um den Willen zum „wilden Denken“ bereichert werden?
Wissensliberation: Wege zu einem anarchistischen Wissensmodell?
Anarchistische Ansätze müssen über die Grenzen der Archäologie im Speziellen und der Wissenschaft im Allgemeinen hinausreichen. In welchem Sinne ist eine Wechselwirkung der Fragestellungen, Methoden und Expert_innenberufungen zwischen der Archäologie und den verschiedenen Öffentlichkeiten überhaupt möglich? Wie können verschiedene archäologische Berufszweige kollaborativ zusammenarbeiten? Welchen Weg kann und sollte Wissen in einer anarchistischen Wissenschaft nehmen, was ist überhaupt herrschaftsfreies Wissen und welche Rolle spielen Expert_innen? Bisherige Modelle basieren eher auf Vermittlung und Konsum, wie kann Wissen aber befreit werden aus autoritären und ökonomischen Zwängen?
Widerstand, Rebellion & Subversion: Wem „hören“ wir zu und wen können wir „hören“?
Anarchistische Lebensweisen in hierarchischen Gesellschaften sind durch vielfältige Emanzipationsprozesse charakterisiert. Wenn hegemoniale Systeme diese Lebensweisen marginalisieren und kriminalisieren, kann Emanzipation durch Widerstand (von Rebellion bis Subversion) wirksam werden. Wie könnten solche ausgrenzenden Macht- und Herrschaftspraktiken und die entgegengesetzten Emanzipationsbestrebungen archäologisch „hörbar“ gemacht werden? Aber „wer spricht“ in letzter Konsequenz über wen und wessen Geschichte wird dabei überhaupt geschrieben? Wie müsste man archäologisch vorgehen, wenn Emanzipation in der Vergangenheit gerade nicht eine Partizipation, sondern eine Selbst-Subordination und Unsichtbarmachung zum Ziel hatte, wie z. B. in der heutigen Punk-Bewegung?
Dieser Workshop richtet sich speziell an Bachelor-, Master- und Promotionsstudierende sowie Post-Docs, die an einer explorativen und theoretischen Auseinandersetzung mit anarchistischen Ansätzen interessiert sind.
Teilnahmevoraussetzung ist die intensive Lektüre und Vorbereitung der im Reader gesammelten und vorab versandten Texte.
Die Workshopsprache ist Deutsch. Auf rechtzeitige Anfrage kann eine Kinderbetreuung eingerichtet werden. Es entstehen keine Teilnahmegebühren.
Wir bitten um eine Anmeldung bis zum 31. August 2018 unter anarchismus_archaeologie@gmx.de.
Impulsvorträge und Postervorschläge o. ä. in Form von Kurzprojektskizzen/Abstracts (max. 150–200 Wörter) können ebenfalls bis zum 31. August 2018 bei o. g. E-Mail-Adresse eingereicht werden.
Aus organisatorischen Gründen muss die Teilnehmer_innenzahl auf 40, die der Impulsvorträge und Poster o. ä. auf 10 beschränkt werden.
Wir freuen uns auf viele Anmeldungen und interessante Projekt- und Ideenskizzen aus den unterschiedlichen Fächern, um einen breiten intra- und interdisziplinären Austausch zu gewährleisten, aber auch, um einen Einblick in verschiedene Forschungsfragen zu erhalten und die Möglichkeit gegenseitiger Anregung bieten zu können.
Verwendete Literatur:
Bill Angelbeck & Colin Grier, Anarchism and the Archaeology of Anarchic Societies: Resistance to Centralization in the Coast Salish Region of the Pacific Northwest Coast. Current Anthropology 53(5), 2012, 547–587; The Black Trowel Collective, Foundations of an Anarchist Archaeology: A Community Manifesto, 2016, <https://savageminds.org/2016/10/31/foundations-of-an-anarchist-archaeology-a-community-manifesto/> (04.03.2018); Paul Feyerabend, Against Method: Outline of an Anarchist Theory of Knowledge (London 1975); James L. Flexner, The Historical Archaeology of States and Non-States: Anarchist Perspectives from Hawai‘i and Vanuatu. Journal of Pacific Archaeology 5(2), 2014, 81–97; David Graeber, Fragments of an Anarchist Anthropology (Chicago 2004); Charles Macdonald, The Anthropology of Anarchy. Indian Journal of Human Development 6(1), 2012, 49–66; Colleen Morgan, Punk, DIY, and Anarchy in Archaeological Thought and Practice. AP: Online Journal in Public Archaeology 5, 2015, 123–146; Brian Morris, Anthropology and Anarchism: Their Eclective Affinity. Goldsmith Anthropological Research Paper 11 (London 2005); Anna Marie Prentiss (Hrsg.), Anarchy and Archaeology, The SAA Archaeological Record. The Magazine of the Society for American Archaeology 17(1), 2017; James C. Scott, The Art of Not Being Governed: An Anarchistic History of Upland Southeast Asia (New Haven 2009); John Schofield (Hrsg.), Counter Archaeologies, World Archaeology 49(3), 2017.
In Kooperation mit Anarchaeologie und unterstützt durch das Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie, Universität Hamburg.