Die diesjährige Tagung der Reihe „Neue Perspektiven auf die Gewerkschaftsgeschichte“ widmet sich der Problematik des Gender Pay Gaps und der mit ihm verknüpften Fragestellungen in historischer Perspektive.
In der Bundesrepublik verdienten im Jahr 2018 Frauen pro Arbeitsstunde ca. 20 Prozent weniger als Männer.[1] Dieser Abstand in der Entlohnung ist seit den 1980er-Jahren nahezu konstant geblieben. Im europäischen Durchschnitt gehört die Bundesrepublik zwar diesbezüglich zu den Spitzenreitern, die Persistenz des Phänomens ist allerdings länderübergreifend. Der Gender Pay Gap, das geschlechtsspezifische Lohngefälle zwischen Männern und Frauen, weist eine frappierende, relative Stabilität über die Zeit auf, und an einer Erklärung dieser Ungleichbehandlung versuchen sich Sozialwissenschaftlerinnen seit Jahren. Als Hauptursachen des Gender Pay Gap, die empirisch klar nachgewiesen werden können, gelten Berufsstruktur, Beschäftigungsumfang, Aufteilung von Familien- und Care-Arbeit oder der Anteil von Frauen und Männern in Führungspositionen. Diskriminierung von Frauen ist auf vielen Ebenen und in intersektionaler Dependenz anzunehmen.
Der historische Blick auf Ausprägungen und Ursachen des Gender Pay Gaps ermöglicht es, seine vielfältigen Verflechtungen mit Entwicklungen von Ungleichheitsstrukturen in Arbeitsmärkten und generell der gesellschaftlichen Arbeitsorganisation zu verdeutlichen. Das geschlechtsspezifische Gehaltsgefälle hängt mit historisch bedingten Definitionen von Arbeits- und Leistungsnormen oder politökonomischen Setzungen von Produktivität zusammen und nicht zuletzt mit der Frage, wie Arbeit bewertet wird und wie es zu diesem „Wert“ kommt. Der „Wert“ von Arbeit ist dabei einerseits numerisch zu verstehen und definiert die Höhe der Entlohnung. Andererseits kann sich der „Wert“ von Arbeit auch als kulturelles Kapital ausprägen: als gesellschaftlicher Status von Arbeit, als Berufsethos oder als ein anzustrebender Habitus. Wir möchten auf Grundlage eines weiten Verständnisses von „Wert“ danach fragen, wie Arbeit bewertet wurde, mit welchen Entwicklungen diese Bewertung erklärt werden kann und welche Rolle Gender dabei spielt. Warum wird Arbeit gut oder schlecht bezahlt und bewertet? Welcher Zusammenhang besteht zwischen Gender und den spezifischen Vorstellungen „guter Arbeit“, die entsprechend entlohnt wird? Welche Be-Wertungen von Arbeit, welche Formen von Anerkennung kann Arbeit jenseits von Entlohnung in Aussicht stellen (Selbstentfaltung, Zuneigung, Erlösung)? Wie und warum funktioniert eine „vergeschlechtlichte“ Bewertung von Arbeit? Mit welchen anderen Klassifizierungsmustern (race, class) war und ist die geschlechtsspezifische Bezahlung und Bewertung von Arbeit intersektional verknüpft?
Diesen und anderen Problemstellungen möchte die Tagung nachgehen, fokussiert auf die Frage nach Ausprägungen und Ursachen des Gender Pay Gaps, im Sinn einer ungleichen Entlohnung von Arbeit. Das breite historische Problemfeld möchten wir anhand von theoretisch und empirisch fundierten Studien durchmessen, deren zeitlicher Rahmen vom frühen 19. Jahrhundert bis zum beginnenden 21. Jahrhundert reichen sollte (aber auch auf die Frühe Neuzeit zurückgreifen kann.)
Uns interessieren besonders folgende fünf Themenfelder:
1) Geschichte und Konjunktur der Debatte
„Gender Pay Gap“ ist ein relativ neuer Begriff für ein altes Phänomen, der sich erst etabliert hat, als das geschlechtsspezifische Gehaltsgefälle in die öffentliche Kritik geriet. Im Zuge der Bürgerrechtskampagnen um „equal pay“, die in den USA 1963 und in Großbritannien 1970 in die legislativen Postulate der „Equal Pay Acts“ mündeten, wurde der Begriff in die bundesrepublikanischen Debatten importiert. Diskussionen und Kritik der „Ökonomie der Geschlechterdifferenz“ (Margareta Kreimer) waren freilich älter und spielten sich auf verschiedenen Ebenen ab: rechtstheoretische Debatten um die Ausdifferenzierung des Gleichheitsgrundsatzes im Grundgesetz, tarifpolitische Auseinandersetzungen um Frauenlohngruppen und Leichtlohngruppen oder ökonomische Expertise, die Kriterien zur Einstufung von Arbeit lieferte. Wir möchten danach fragen, mit welchen Interessen diese Debatten geführt worden sind, welche Probleme sie adressierten und welche Bewertungen von Arbeit mit ihnen transportiert wurden.
2) Verberuflichung und Gender
Die Analyse der geschlechtsspezifischen Konnotation von Arbeitsinhalten bildete im Grunde den Auftakt zur historischen Genderforschung in der Bundesrepublik. Der prominente Aufsatz „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ von Karin Hausen, 1976 publiziert, beschreibt die Biologisierung von Geschlecht um 1800 und die darauf beruhende Aufspaltung von privater Familiensphäre und öffentlicher Erwerbsarbeit. Weitreichend für die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarkts waren damit auch Grundlagen für die Vergeschlechtlichung von Berufen gelegt, das heißt der Ausprägung „typisch“ weiblicher und männlicher Berufe und auf sie vorbereitende Bildungswege. Dabei ist nicht nur festzustellen, dass „weibliche“ Berufe in der Regel schlechter bezahlt sind als „männliche“, sondern auch, dass eine „Feminisierung“ von Berufen häufig mit Statusverlust einhergeht (z.B. bei der Sekretärin oder der Grundschullehrerin), der sich auch lohnpolitisch auswirkt. Uns interessiert in diesem Zusammenhang: Wie kommt die Wertsetzung eines Berufs zustande, und was hat das mit dem Geschlecht derer zu tun, die ihn ausüben? Was geschieht in genderspezifischer Hinsicht bei der Transformation von „Männer“- in „Frauenberufe“ und umgekehrt? Welche geschlechtlich konnotierten Bewertungen von Berufen stehen einer ökonomisch angemessenen Entlohnung entgegen, und warum ist das so?
3) Interessenvertretung
Wenn es um Entgeltpolitiken geht, sind in erster Linie Gewerkschaften, aber auch andere Interessenvertretungen Erwerbstätiger zuständig. Eine Problematisierung des Gender Pay Gaps muss deshalb nach der gewerkschaftlichen Vertretung der Betroffenen fragen, die in frauendominierten Bereichen von Erwerbsarbeit (Pflegesektor, Einzelhandel, Gebäudereinigung) auffallend schwach ist. Ursächlich mögen einerseits Faktoren wie Betriebsgröße und Teilzeittätigkeit sein, die eine Organisierung der Interessenvertretung erschweren. Andererseits sind historisch ambivalente bis ablehnende gewerkschaftliche Positionen bezüglich der Erwerbstätigkeit von Frauen, ein entsprechendes Image von Gewerkschaften und männlich konnotierte gewerkschaftliche Strukturen in Rechnung zu stellen. In diesem Zusammenhang sind Beiträge denkbar, die zum einen sichtbar machen, welche Formen von Interessenvertretungen, einschließlich Arbeitskämpfen und Streiks, in frauendominierten Bereichen unter dem Radar einer offiziellen Überlieferung doch vorhanden waren und wie diese gewerkschaftsintern rezipiert wurden. Zum anderen harrt die schwache gewerkschaftliche Vertretung in frauendominierten Branchen der historischen Erforschung. Welche Ursachen lassen sich hierfür eruieren? Und schließlich: Inwiefern war und ist Interessenvertretung in Erwerbsarbeit in Organisation und Kommunikation geschlechtsspezifisch konnotiert?
4) Performanz und Inszenierung von Arbeit
Gender wird sozial und kulturell im Alltag immer wieder aktualisierend hergestellt und vor allem dargestellt. Der Arbeitsalltag ist keine Ausnahme im „doing gender“-Prozess, sondern vorrangige Arena, in der Machtstrukturen und Machtverhältnisse geschlechtsbezogen ausgehandelt werden: die eine kocht Kaffee, der andere ruft zum Diktat; Kumpel schuften unter Tage, Schwestern pflegen aufopferungsvoll. Insbesondere ist an die performativen Aspekte von Arbeitspraktiken zu denken, ihre Inszenierungsmechanismen und Disziplinierungszwänge, denen frauentypische, körpernahe Dienstleistungsarbeit (Krankenschwester, Friseurin) in anderer Hinsicht unterliegt als Industriearbeit. Wie wurde beruflicher Erfolg inszeniert und welche Handlungsroutinen sind nachweisbar, um Arbeit auf- oder abzuwerten oder gar Invektivität von Arbeit herzustellen? Welche Rolle spielten vermeintliche Bagatellen, wie „Necken“ (Alf Lüdtke) oder Schikanen? Wurde sexuelle Gewalt ausgeübt, und wie alltäglich war diese? Wie wurde Anerkennung oder Abwertung von Arbeit im Alltag praktiziert?
5) Ungleiche Schwestern – Lohngefälle in DDR und Bundesrepublik
Mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten trafen vielfältige Differenzen ökonomischer, kultureller und politischer Art aufeinander, aber auch unterschiedliche Vorstellungen von Geschlechterrollen. Waren Frauen in Westdeutschland im Sinne der akademisch getragenen Frauenbewegung emanzipiert, jedoch gesellschaftlich mit der Dominanz traditioneller Geschlechterbilder konfrontiert, so war in der DDR Erwerbstätigkeit für Frauen selbstverständlich und gesellschaftlich erwünscht. In den Führungsebenen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft blieben Frauen jedoch auch in der DDR deutlich unterrepräsentiert. Unser Interesse gilt Fragen danach, inwiefern Erwerbsarbeit in der DDR geschlechtsspezifisch entlohnt wurde. Welche Branchen wurden wie bezahlt? Welchen Stellenwert hatte überhaupt die Entlohnung von Erwerbsarbeit? Welche Erfahrungen machten Frauen in der Praxis mit der Bewertung ihrer beruflichen Tätigkeit? Welche Bedeutung kamen dann der Wende, Wiedervereinigung und den Umbrüchen der ostdeutschen Arbeitsmärkte für die Bewertung weiblicher Arbeitsleistung zu? Welche Positionen konnten (ostdeutsche) Frauen nach 1990 neu einnehmen, welche waren verschlossen und welche Anerkennung erwartete sie?
Willkommen sind Beiträge zu diesen und weiteren Themenfeldern aus den Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich mit Entwicklungen in Deutschland befassen, aber auch eine international vergleichende oder transnationale bzw. globalgeschichtliche Perspektive einnehmen können. Als Keynote Speaker konnten wir Susan Zimmermann (Universität Wien) gewinnen.
Die Tagung wird vom Kooperationsprojekt „Jüngere und jüngste Gewerkschaftsgeschichte“ der Hans-Böckler-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstaltet. Reisekosten und Unterkunftskosten für Vortragende werden durch die Hans-Böckler-Stiftung und die Friedrich-Ebert-Stiftung getragen.
Abstracts mit etwa 400 Worten und ein kurzes akademisches CV sind bis zum 30. April 2020 an Wiebke Wiede (wiede@uni-trier.de) zu senden.
[1] Angaben nach: WSI GenderDatenPortal 2019, online unter: https://www.boeckler.de/52854.htm#.