Kozlov, Vladimir; Mironenko, Sergei: History of Stalin's Gulag. Late 1920s - Early 1950s. Soviet Repressive-Penal Policy and Penal System in the Holdings of the State Archives of the Russian Federation. Annotated Guide to the Files (= Istorija Stalinskowo Gulaga tom 7). Moskau: Rosspen 2005. ISBN 5-8243-0604-4; geb.; 711 S..
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Freddy Litten
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Die "Geschichte des Stalinschen Gulag", ein Werk in sieben Bänden, ist Ergebnis einer langjährigen Kooperation zwischen dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF) und der Hoover Institution in Stanford/Kalifornien. Die finanzielle Förderung dieser Edition durch die amerikanische Seite war Bestandteil der Vereinbarungen zwischen dem GARF, der Hoover Institution und dem damals noch britischen Verlag Chadwyck-Healey, die auch die Mikroverfilmung von Dokumenten im GARF zum sowjetischen Gulag unter Stalin betrafen.
Die ersten sechs Bände stellen eine Edition der nach Ansicht der Herausgeber wichtigsten Dokumente aus diesem Archiv dar. Der siebte Band dagegen fällt in der Art aus dem Rahmen: Es handelt sich hier um ein Findmittel zu allen Beständen im GARF, die im Rahmen der Projekts "Archives of the Soviet Communist Party and Soviet State" (in der Folge: "Soviet Archives") verfilmt wurden.[1] Dass damit auch ein wesentlich breiteres Umfeld für die in den vorherigen sechs Bänden edierten Dokumente definiert wird, fällt dabei weniger ins Gewicht, als dass jetzt für über 7.500 Filmrollen mit mehr als fünf Millionen Seiten ein gut benutzbares Findmittel existiert. Keine Studie über die repressiven Seiten des Sowjetregimes unter Stalin (und Lenin) wird in Zukunft an diesen Beständen und damit auch an diesem Findmittel vorbeikommen.
Um die Bedeutung dieses Findmittels zu verstehen, ist ein Blick auf die Verfilmung "Soviet Archives" unerlässlich. Ursprünglich, d.h. 1991/92, handelte es sich um den Versuch der Hoover Institution, in Verbindung mit Chadwyck-Healey wichtige Bestände aus drei großen Moskauer Archiven zu verfilmen: dem "Russischen Staatsarchiv für Neuere Geschichte" (RGANI; früheres Parteiarchiv für die Zeit ab ca. 1950) dem "Russischen Staatsarchiv für Sozial- und politische Geschichte" (RGASPI; früheres Parteiarchiv für die Zeit bis ca. 1950) und dem GARF. Während die Verfilmungen aus den ersten beiden ehemaligen Parteiarchiven nicht das geplante Ausmaß erreichten und nach einigen Jahren eingestellt wurden - wobei dann teilweise andere Verlage mehr Glück hatten -, ging die Verfilmung im GARF zwar nicht problemlos, aber doch erfolgreich voran. Nachdem in einem ersten Schritt zahlreiche Findmittel zu Beständen des GARF verfilmt worden waren, wandte man sich Dokumenten zu, zuerst denen aus dem sog. "NKVD-Fond" r-393. Dabei handelt es sich tatsächlich um Materialien des "Volkskommissariats für innere Angelegenheiten" der russischen Sowjetrepublik RSFSR (nicht der UdSSR) von etwa 1920 bis 1930, nicht um den erst später unter diesem Namen bekannten Geheimdienst. Der Inhalt dieses Fonds ist zum großen Teil (nur) organisationsgeschichtlich interessant, liefert aber auch viel zum Thema Miliz und in Opis' (Unterbestand) 89 reichlich Material zur "Hauptverwaltung Zwangsarbeit" von 1918 bis 1925.[2]
Wesentlich fokussierter in diese Richtung führen umfangreiche Verfilmungen der Fonds r-4042, r-9412, r-9414 und r-9479, die sich mit den Arbeitslagern, Kolonien usw. beschäftigen, im ersten Fall auf Ebene der RSFSR, in den anderen auf der Ebene der gesamten Sowjetunion. Zu beachten ist, dass es sich auch hier vor allem um Verwaltungsakten handelt, die Bearbeitung also recht mühsam sein kann und die Opferperspektive kaum zu erwarten ist. Andererseits findet man hier wirklich den Kern des Gulag, denn fond r-9414 enthält die Akten eben der "Hauptverwaltung der Lager" (Glawnoje Uprawlenije Lagerej).
Einen anderen Schwerpunkt bilden Verfilmungen aus den Fonds r-1005, r-7521, r-7863, r-8131, r-9474 und r-9492, die Materialien aus dem juristischen (Prokuratur, Oberstes Gericht der UdSSR, etc.) und quasi-juristischen Umfeld (etwa die Amnestiekommission beim Präsidium des ZEK der UdSSR) des Gulag umfassen. Die Opfer firmieren insbesondere in den beiden Beständen des "Moskauer Politischen Roten Kreuz" und der Nachfolgeorganisation "Hilfe für Politische Gefangene" von E. P. Peshkova (r-8419 und r-8409). Der Gesamtbereich "Gulag/politische Justiz" und die Verbindung der verschiedenen Akteure wird durch eine Auswahlverfilmung des Fonds r-5446 "Rat der Volkskommissare der UdSSR" (Sownarkom) bzw. "Rat der Minister der UdSSR" (Sowmin) auf hohem Niveau dokumentiert.[3]
Zu den meisten dieser 14 Fonds liegen die Originalfindmittel bereits in Verfilmung vor. Allerdings sind diese teilweise wegen Papierzerfalls schlecht lesbar oder nur handschriftlich angefertigt und zudem über zahlreiche Filmrollen verteilt. Hinzu kommt, dass nicht alle Fonds komplett verfilmt wurden, so dass ein Fund im Originalfindmittel noch nicht bedeutet, dass die entsprechenden Dokumente auch wirklich auf Film vorhanden sind.
Durch den Band 7 der "Istorija Stalinskowo Gulaga" können nun wenigstens diese Probleme ad acta gelegt werden, denn nur die "Dela" (Akten), die wirklich verfilmt wurden, sind beschrieben. Die Beschreibungen der einzelnen Akten wurden häufig neu formuliert und sind typographisch problemlos zu lesen.[4] Zu jedem Bestand gibt es eine kurze Einführung. Mehrere Anlagen beschließen den Band: eine tabellarische Übersicht der verfilmten Akten in den verschiedenen Beständen in numerischer Reihenfolge; eine Auswahlbibliographie; ein Register der Namen (allerdings nur solcher, die in den Beschreibungen vorkommen; Register der Inhalte der Dokumente selbst wären angesichts des Umfangs illusorisch); ein weiteres der Lager, Gefängnisse usw.; ein geographisches Register und ein Abkürzungsverzeichnis.
Ist man in diesem Findmittel fündig geworden, so kann man die entsprechenden Dokumente auf Mikrofilm entweder in der Bayerischen Staatsbibliothek selbst oder per Fernleihe ansehen. Die Bayerische Staatsbibliothek besitzt die komplette Verfilmung der "Soviet Archives" und stellt sie deutschlandweit zur Verfügung.
Band 7 der "Istorija Stalinskowo Gulaga" ermöglicht es so endlich, einen für viel Geld erworbenen, fundamentalen Aktenbestand zur Repression in den ersten Jahrzehnten der Sowjetunion erheblich leichter zu benutzen. Der Band leistet das, was ein Findmittel leisten kann; alles Weitere ist Aufgabe der Forschung.
Anmerkungen:
[1] Elena S. Danielson, ehemalige Leiterin des Archivs der Hoover Institution, stellte einige der Hintergründe dieses komplexen Verfilmungsprojekts in einem Vortrag am 14. November 2005 in der Bayerischen Staatsbibliothek dar. Eine deutlich erweiterte Fassung des Vortrags befindet sich in Vorbereitung.
[2] Unter den ursprünglich geplanten Verfilmungen in den drei Archiven hatte dieser Bestand die niedrigste Priorität. Es ist allerdings auch dann noch unklar, wie weit die westliche Seite über die tatsächlichen Inhalte des NKVD-Fonds Kenntnis hatte. Der Umfang der Verfilmung aus diesem Fond (bis hin zu solchen Dingen wie Opis' 8: Zentrale Veterinärabteilung, 1918-1920) scheint jedenfalls mit über 4.000 Filmrollen etwas übertrieben.
[3] Genauere Angaben zu den Fondtiteln und Laufzeiten findet man im Findmittel und unter http://www.bsb-muenchen.de/mikro/litup69.htm. Die Reihung der Fonds im Findmittel folgt etwas anderen Gesichtspunkten: Im ersten Abschnitt wird der Bestand "Sovnarkom/Sovmin" aufgeschlüsselt, dann folgen Bestände zum Gulag auf Ebene der UdSSR. Der dritte Teil betrifft das Umfeld des Gulag, also Prokuratur, Oberstes Gericht der UdSSR, usw., der vierte die "gesellschaftlichen Organisationen" "Moskauer Politisches Rotes Kreuz" und "E.P. Peshkova. Hilfe für Politische Gefangene". Im fünften Teil findet man die Angaben zu den Beständen auf Ebene der RSFSR.
[4] Wie weit die Beschreibungen umformuliert wurden, ist unterschiedlich. Oft sind die Beschreibungen mehrerer auch weit auseinanderliegender Dela zusammengefasst, was in einigen Fällen Herumblättern nötig macht, andererseits aus Platzgründen notwendig ist. Grundsätzlich fehlen in Band 7 die Anzahl der Seiten in einem Delo sowie genauere Laufzeitangaben (Monate), die man den Originalfindmitteln teilweise entnehmen kann. Dafür sind einige Laufzeiten gegenüber den Originalfindmitteln korrigiert. Ein kleiner Kritikpunkt betrifft die fehlenden Kopfzeilen, die es erleichtert hätten, sich in dem Band zurecht zu finden.
[5] http://www.bsb-muenchen.de/mikro/litup69.htm.
[6] Wie zu vermuten ist, befindet sich Delo 120 auf Filmrolle 9, so dass die vollständige Signatur lautet: Film R 94.1132-3,8419,1,9.
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