Call for Articles für ein Schwerpunktheft im Mai 2023 – Exposés bis 31. März 2022 willkommen
„Klasse und Geschlecht“ – unter diesem Titel unternahmen wir in Heft 3/2019 den Versuch einer historischen Bilanz zu der Frage, wie Arbeiter:innenbewegungen[1] und klassenbasierte Proteste mit Geschlechterordnungen umgingen und welche historischen Praxen sich aus dem Anspruch einer Emanzipation gegenüber beiden Herrschaftsverhältnissen ergaben. Ein Ergebnis war: Gerade jene Bewegung, in der das Thema Klasse und Geschlecht erstmals marxistisch reflektiert wurde, ist seit Jahrzehnten von der Forschung vernachlässigt worden – die proletarische Frauenbewegung im deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik. Daher wollen wir dieser nun ein eigenes Heft widmen.
Unser Wissen über die Geschichte der proletarischen Frauenbewegung ist bis heute von unterschiedlichen Forschungslücken geprägt. Während ihr historischer Kern im Kampf von Arbeiterinnen um politische, ökonomische und soziale Gleichberechtigung und Emanzipation der späten Kaiserzeit und der Weimarer Republik liegt, fand die Intensivierung ihrer Erforschung vorrangig in der Bundesrepublik der 1970er und 80er Jahren statt. Herausragend sind hier Autor:innen wie Elisabeth Haarmann, Heinz Niggemann, Sabine Richebächer oder auch der britische Historiker Richard Evans zu nennen. Seitdem scheint das Forschungsinteresse an diesem Gegenstand massiv abgenommen zu haben – woran auch die Jubiläen der 100jährigen Ausrufung der Weimarer Republik 2019 oder der 150jährigen Gründung des Deutschen Kaiserreichs 2021 nichts geändert haben.
Trotz einer gegenwärtigen Renaissance der Frauengeschichtsschreibung, die sich in prominenten Buchveröffentlichungen und verschiedenen Podcast-/Twitter-Projekten zeigt, steht ein dezidierter und analytischer Blick auf das proletarische Frauenbewegungsspektrum in all seinen Facetten noch aus. Darunter fassen wir diejenigen Akteurinnen, die sich ihrem Selbstverständnis nach zur proletarischen Frauenbewegung gezählt haben. Die jüngere Forschung hat bereits ihre Perspektiven erweitert, um der Heterogenität der Frauenbewegung im Kaiserreich Rechnung zu tragen. Einige Ansätze präferieren zudem dekonstruktive Sichtweisen und diskutieren die Tauglichkeit der Einteilung in beispielsweise „bürgerlich“ oder „proletarisch“ zur Beschreibung der Bewegung. Insgesamt lassen sich für den Diskurs aber zwei durchaus problematische Fluchtpunkte ausmachen: Erstens muss kritisch hinterfragt werden, warum Eigen- und Fremdbeschreibungen von Bewegungsakteurinnen als solche nicht ernst – wenngleich kritisch kontextualisiert und auf Validität geprüft – genommen werden. Zweitens führt dieser dekonstruktivistische Ansatz in der Forschungspraxis tendenziell dazu, proletarische Aktivist:innen aus Bewegungen herauszuschreiben bzw. zu marginalisieren.
Diese Beobachtungen sind Anlass für das geplante Schwerpunktheft. In diesem soll der Vielfalt der proletarischen Frauenbewegung nachgespürt werden. Der zeitliche Schwerpunkt liegt auf dem Deutschen Kaiserreich und der Weimarer Republik, um Kontinuitätslinien und/oder Brüche zu verfolgen. Uns ist es ein Anliegen, den Blick von den Führungsfiguren auf die Aktivistinnen der zweiten Reihe zu richten, Widersprüche auszuhalten und intersektionale Perspektiven stärker einzubeziehen. Das könnte bestenfalls zu einer neuen Phase der Multiperspektivität in der historischen Forschung zur Frauenbewegung beitragen.
Wir rufen zur Einreichung von Beiträgen auf, die unterschiedliche Perspektiven auf den und Zugänge zum Forschungsgegenstand entfalten. Dabei ist eine Vielzahl von Themenbereichen von Interesse. Dieser sehr breite Zugriff auf den Forschungsgegenstand wird durch die Auswahl geeigneter Beiträge schließlich in eine kohärente Form gebracht. Mögliche, aber keineswegs abschließende Themenideen sind folgende:
I Mögliche Themen
Welche Positionen nahmen die Aktivistinnen der proletarischen Frauenbewegung beispielsweise zum Wahlrecht, zu den Reichsversicherungsgesetzen, zum Kinderschutz, zum Arbeitsrecht sowie -schutz, zu Familie und Sexualität, zu den Gesetzen (RStGB) §§ 218 bis 220, zu Krieg und Frieden oder zur Dienstbotinnenfrage ein? Welche Strategien und Kampagnen wurden entwickelt, um die Anliegen voranzutreiben? Welche Kontroversen und Konflikte gab es mit anderen proletarischen Organisationen oder innerhalb der eigenen Organisation?
II Bewegungsspektrum
Die proletarische Frauenbewegung war eine heterogene Kraft unter vielen im Bewegungsspektrum des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Beiträge können daher die Vielfalt innerhalb der proletarischen Frauenbewegung thematisieren: Verhältnis zwischen Anarchist:innen, Kommunist:innen, Sozialdemokrat:innen, Syndikalist:innen oder zu anderen Flügeln der bürgerlichen und konfessionellen Frauenbewegung. Welche flügelübergreifenden Kooperationen gab es? Welche Rolle spielte die proletarische Frauenbewegung in den Gewerkschaften und Arbeiter:innenparteien? Wie war das Verhältnis zum proletarischen Antifeminismus in der Arbeiter:innenbewegung? Untersuchungen zur Arbeiter:innenjugendbewegung und Genossenschaftsbewegung sowie international komparativ orientierte Studien sind zudem ausdrücklich willkommen.
III Organisation und Regionalgeschichte
Die Regionalgeschichtsschreibung zur proletarischen Frauenbewegung ist kaum ausgeprägt, obwohl jene besonderes Geschick in der direkten lokalen Organisation bewies und hier durch Bildungsangebote, Kinderbetreuung, Fortbildungen in der „Agitation“, bei Streiks und der Gewerkschafts- und Dienstbot:innenorganisation Mobilisierungserfolge feierte. Ein möglicher Fokus für Beiträge kann demnach auf der Darstellung und Analyse lokaler Kampagnen, Proteststrategien oder Kooperationen liegen; denkbar sind auch biographische Zugänge oder überregionale Vergleiche.
IV Internationale Verflechtungen
Die Frauenbewegung war wie die Arbeiter:innenbewegung stark international aktiv. Nicht nur die internationalen Konferenzen zum Frauenstimmrecht, auch die internationalen Frauengewerkschaftskonferenzen und die vom Deutschen Kaiserreich ausgehenden International Socialist Women's Conferences spielten eine wichtige Rolle für die proletarische Frauenbewegung. Mögliche Beiträge zu internationalen Kongressen, Netzwerken oder Kampagnen könnten einen neuen Blick auf diese trans- und internationalen Verflechtungen der proletarischen Frauenbewegung werfen.
V Rezeptionsgeschichte
Ein Blick auf die Rezeptionsgeschichte der proletarischen Frauenbewegung kann u.a. Konjunkturen, Annahmen, Schwerpunkte und Leerstellen der Forschung offenlegen. Welche Rolle spielte beispielsweise die proletarische Frauenbewegung in der eigenen Geschichtsschreibung der Aktivistinnen der sog. „ersten Welle“? Welche Perspektiven hatten die Aktivistinnen der anderen Flügel auf die Proletarierinnen? Welche Annahmen wurden in späteren Rezeptionsphasen tradiert oder überwunden?
VI Rezensionen und Dokumentationen
Neben den Artikeln zum Schwerpunkt sind ebenfalls thematisch passende Rezensionen zu neueren Veröffentlichungen, Beiträge zu aktuellen Ausstellungen sowie die Vorstellung für die Forschung thematisch relevante Archive innerhalb der Rubrik „Geschichtskultur“ willkommen.
Form und Fristen
Wir bitten um die Einreichung aussagekräftiger Exposés bis zum 31. März 2022 im Umfang von bis zu 2.500 Zeichen, aus denen Thematik, Methode und Quellenbasis des geplanten Artikels hervorgehen. Auf Grundlage der Exposés werden wir gezielt Beiträge anfordern. Die Abgabefrist für die ausgearbeiteten Artikel ist der 31. Oktober 2022. Alle Beiträge durchlaufen vor der Veröffentlichung ein internes Begutachtungsverfahren (review), erst nach Einreichung und Begutachtung der Endfassung erfolgt die Publikationszusage. Beiträge für Arbeit – Bewegung – Geschichte werden nicht honoriert. Manuskripte bitte per E-Mail, vorzugsweise als docx-Datei einsenden. Die ausgearbeiteten Beiträge sollen 50.000 Zeichen inkl. Leerzeichen nicht überschreiten. Bitte beachten Sie unsere Hinweise für Autorinnen und Autoren.
Kontakt und Abgabe: cfp@arbeit-bewegung-geschichte.de
Der Zeitplan in Kürze:
Einreichung der Exposés: 31. März 2022
Einreichung fertiger Beiträge: 31. Oktober 2022
Veröffentlichung des Schwerpunktheftes: Mai 2023
[1] In der Zeitschrift und im Call wird eine geschlechterinklusive Schreibweise genutzt. Um die Aktivistinnen inner- und außerhalb der Frauenbewegung sichtbar zu machen, wird im Call aber auch auf ihre Selbstbeschreibung als Frau/Frauen, Arbeiterinnen etc. verwiesen und diese ernst genommen. Eine reine geschlechterneutrale Schreibweise läuft dem Anliegen des Calls entgegen, den Aktivismus von proletarischen Frauen in der proletarischen Frauenbewegung und der Arbeiter:innenbewegung sichtbar zu machen.