Die geplante Tagung fokussiert die kulturhistorische, medienkulturwissenschaftliche und literarästhetische Erforschung von Comics auf die in ihnen vorkommenden Bilder von Klasse und Klassismen, Arbeits- und Klassenverhältnissen.
Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic
Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung
Dortmund, 16. bis 19. November 2022
Veranstalter:innen: Iuditha Balint (Fritz-Hüser-Institut Dortmund) & Markus Engelns (Universität Duisburg-Essen)
In den letzten Jahren ist eine deutliche Zunahme von literarischen und medialen Narrationen von Verschränkungen von sozialer Herkunft, sozialen Missständen, Arbeits- und Klassenverhältnissen und Klassismen zu beobachten – von Themenfeldern also, die hauptsächlich im 19. und 20. Jahrhundert virulent waren. Ob es nun Werke von Annie Ernaux, Didier Eribon, Éduard Louis, Saša Stanišić, Anke Stelling, Christian Baron, Heike Geißler oder etwa Katja Ostkamp sind, Erzählungen vom Dienstleistungssektor, schriftstellerischer, künstlerischer oder Care-Arbeit sind auf dem literarischen Markt vermehrt beobachtbar. Entsprechend nimmt auch die Erforschung von strukturellen Machtverhältnissen sowie von sozialen und ökonomischen Reproduktionsverhältnissen in den kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literatur- und Medienwissenschaften zu. Fokussiert werden hierbei hauptsächlich autobiographische und autofiktionale Erzählungen von Klassenübergänge(rinne)n. Bildungsaufstieg ist für diese Untersuchungen eine wesentliche – meist unreflektierte, problematische – Kategorie (Blome 2020).
Auffallend ist dabei einerseits, dass zwischen den zwei Verwendungsweisen von Klasse nur selten unterschieden wird: einmal als sozio-politische Hierarchisierungen, die sich in Klassismen manifestieren, und einmal als sich historisch verändernde sozioökonomische Reproduktionsverhältnisse, die sich im Konzept des Prekariats verfestigen (Blome u. Eiden-Offe 2012). Beide Verwendungsweisen sind struktureller Natur und eng an Identitätsfragen gekoppelt, und doch mit einem analytischem literatur- und medienwissenschaftlichen Instrumentarium voneinander trenn- und unterscheidbar.
Auffallend ist andererseits, dass eine Analyse der Darstellung von Arbeits- und Klassenverhältnissen, sowie Klassismen in Comics auf sich warten lässt. Während also die Kategorie der Klasse in vielen medien-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Studien aus diskursanalytischer oder narratologischer Perspektive untersucht wird, sind solche Ansätze für Comics höchstens als Desiderate verfügbar, obwohl sich nicht wenige Comics und Comicgenres maßgeblich mit Klasse und Klassenverhältnissen auseinandersetzen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die Verhandlung von Klassenverhältnissen in den Dagobert Duck-Comics, an die sozialkritischen franko-belgischen sowie süd- und nordamerikanischen Comics ab den 1970er Jahren, an frühe Funnies und Cartoons, aber auch an fantastische und semi-dokumentarische Beispiele der neueren Zeit, gerade aus den Federn von schwedischen, britischen und amerikanischen Zeichner:innen. Medial betrachtet sind in diesem Zusammenhang die Nähe des Comics zur politischen Karikatur (Frahm 2010), die auch durch Cartoonisierung vermittelten Körperbilder (Packard 2006) und Identifikationsprozesse mit Comicfiguren (McCloud 1994) von besonderem Interesse für den Umgang mit Bildern der Arbeit und von Klassen. So nämlich wird in Kombination mit den Auseinandersetzungen der bildenden Künste ab dem 19. Jahrhundert deutlich, dass bildnerische Darstellungen von Klasse und Arbeit ein wichtiger Teil des 20. und 21. Jahrhunderts sind – insbesondere durch den von Käthe Kollwitz geprägten Realismus, durch den von Max Liebermann vertretenen Impressionismus, das spätestens ab den 1920er Jahren populäre Grafikdesign sowie propagandistische und anderweitig politisierte Zugänge wie etwa dem Klassenkampf. Indem Comics als Bild-Texte somit zugleich in den erzählenden und darstellenden Künsten verortet sind, spannen sie eine in historischer, medialer und kultureller Hinsicht breite Auseinandersetzung mit Vorstellungen von Arbeit und Klasse auf.
Genau hier setzt unsere Tagung an. In den Fokus gerückt werden soll die kulturhistorische, medienkulturwissenschaftliche und literarästhetische Erforschung von Comics auf die in ihnen vorkommenden Bilder von Klasse und Klassismen, Arbeits- und Klassenverhältnissen. Mögliche Fragen könnten lauten:
- Wie und was erzählen Comics von Arbeits- und Klassenverhältnissen und Diskriminierungen aufgrund der sozialer Herkunft?
- Inwiefern eignen sich Comics als Bildnarrationen in besonderer Hinsicht zur Diskursivierung von Arbeit und Klasse?
- Inwiefern begünstigen die Nähe des Comics zur politischen Karikatur, die Cartoonisierung und Maskeneffekte die Darstellung von Arbeits- und Klassenverhältnissen?
- Wie haben sich diese Diskursivierungen in darstellerischer Hinsicht gewandelt?
- Welche kulturspezifischen Besonderheiten weisen diese Darstellungen auf?
- Welche Norm- und Wertorientierungen werden in den verschiedenen Darstellungen sichtbar und wie haben sich diese gewandelt?
- Wie gehen Comics auf neuere Entwicklungen in Bezug auf Arbeit und Klasse ein?
- Wie überkreuzen sich Zeit-, Kunst- und Mediengeschichte im Comic und was tragen sie jeweils und gemeinsam zur Darstellung von Arbeits- und Klassenverhältnissen bei?
- Welche Längs- und Querschnitte könnten bezüglich des Tagungsthemas durch private und öffentliche Comicsammlungen gemacht werden?
Abseits unseres Tagungsthemas bieten wir zudem ein offenes Panel an, in dem comicspezifische, thematisch offene Projektideen im Rahmen eines fünfzehnminütigen Impulsvortrages vorgestellt werden können.
Abstracts von max. einer Seite für einen 20-minütigen Vortrag im Rahmen unseres Tagungsthemas oder für einen nicht tagungsbezogenen Impulsvortrag im Rahmen des offenen Panels, kurzbiographische und ggf. themenbezogene bibliographische Angaben können bis zum 17. April 2022 unter ibalint@stadtdo.de und markus.engelns@uni-due.de eingereicht werden. Im Juni erhalten Sie eine Rückmeldung zur Beitragsannahme.
Die Konferenz findet am 16. bis 19. November 2022 in Dortmund statt; sollte es die Bekämpfung der COVID-19-Pandemie notwendig machen, dann digital.
Betreuung und künstlerisch-medientechnische Workshops für die Kinder der Teilnehmenden sind vorgesehen. Sollten Sie Betreuung für Ihr(e) Kind(er) benötigen, sprechen Sie uns bei Annahme Ihres Beitrages bitte darauf an. Reise- und Hotelkosten ebenfalls übernommen.
Die Tagung ist eine Kooperation des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt mit dem Institut für Germanistik der Universität Duisburg-Essen und der Gesellschaft für Comicforschung.
Auswahlbibliografie:
- Adams, Jeff: Documentary Graphic Novels and Social Realism. Oxford 2008.
- Ahrens, Jörn und Arno Meteling (Hrsg.): Comics and the City. Urban Space in Print, Picture and Sequence. London, New York 2010.
- Balint, Iuditha: Erzählte Entgrenzungen. Narrationen von Arbeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Paderborn 2017.
- Barbey, Rainer: Recht auf Arbeitslosigkeit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit. Paderborn 2022.
- Böttcher, Philipp: Der Mythos von der ‚nivellierten Mittelstandsgesellschaft‘ und die Soziologie der Gegenwartsliteratur. Erinnerungen an die alte Bundesrepublik in Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 65 (2021), S. 271–307.
- Blome, Eva: Rückkehr zur Herkunft. Autosoziobiografien erzählen von der Klassengesellschaft, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Heft 4/2020. S. 541–571.
- Blome, Eva, & Eiden-Offe, Patrick (2012). Literaturwissenschaft und Klasse: Interview mit Eva Blome und Patrick Eiden-Offe. Undercurrents – Forum für Linke Literaturwissenschaft. URL: <http://undercurrentsforum.com/index.php/undercurrents/article/view/2>.
- Bogart, Leo: The Comic Strips and their Adult Readers. A Study of Male Workers in a New York City Neighborhood. (Thesis), University of Chicago 1950.
- Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. 2007.
- Bröckling, Ulrich: Der Mensch als Akku, die Welt als Hamsterrad. Metaphern im Burnout-Diskurs. In: Sighard Neckel, Greta Wagner (Hrsg.): Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft. Berlin 2013. S. 179–200.
- Cohen, Michael: „Cartooning Capitalism”. Radical Cartooning and the Making of American Popular Radicalism in the Early Twentieth Century." In: International Review of Social History 52.Suppl. S15 (2007), S. 35–58.
- Eiden-Offe, Patrick: Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats. Berlin 2017.
- Erdbrügger, Torsten, Ilse Nagelschmidt, Inga Probst (Hrsg.): Omnia vincit labor? Narrative der Arbeit – Arbeitskulturen in medialer Reflexion. Berlin 2013.
- Frahm, Ole: „Die Geste des Comics.“ In: Stephan Packard (Hrsg.): Comics & Politik. Comics & Politics. Bochum 2014, S. 53–72.
- Frahm, Ole: „Enthauptung. Independent Comics und ihre Unabhängigkeit von bürgerlichen Kunstbegriffen.“ In: Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva und Daniel Stein (Hrsg.): Comics. Zur Theorie und Geschichte eines populärkulturellen Mediums. Bielefeld 2009, S. 179–200.
- Frahm, Ole: Die Sprache des Comics. Hamburg 2010.
- Agatha Frischmuth: Nichtstun als politische Praxis. Literarische Reflexionen von Untätigkeit in der Moderne. Bielefeld 2021.
- Grünewald, Dietrich (Hrsg.): Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie. Bochum 2013.
- Grünewald, Dietrich (Hrsg.): Visuelle Satire. Deutschland im Spiegel politisch-satirischer Karikaturen und Bildergeschichten. Berlin 2016.
- Grünewald, Dietrich: „Ein Wert an sich. Geld im Comic.“ In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 81 (2012), S. 219–243.
- Hochschild, Arlie Russell:So How’s the Family? And other essays. Berkeley 2013.
- Kesper-Biermann, Sylvia: „Unearthing a buried past“. Bergbau im Comic. In: Dagmar Kift, Eckhard Schinkel, Stefan Berger, Hanneliese Palm (Hrsg.): Bergbaukulturen in interdisziplinärer Perspektive. Diskurse und Imaginationen. Essen 2018, S. 151–164.
- Matthies, Annemarie: Spielbälle. Neuverhandlungen der Arbeitswelt im Medium Literatur. Konstanz 2016.
- Maxwill, Arnold (Hrsg.): Leben in der Arbeitslandschaft. Narrationen des Ruhrbergbaus. Paderborn 2021.
- McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York 1994.
- Netzwerk Kunst und Arbeit: Art Works. Ästhetik im Postfordismus. Berlin 2015.
- Nilsson, Magnus: „Working-class comics? Proletarian self-reflexiveness in Mats Källblad’s graphic novel Hundra ar i samma klass.” In: Journal of Graphic Novels and Comics (2018), S. 1–13.
- Packard, Stephan (Hrsg.): Comics & Politik. Comics & Politics. Bochum: Ch. A. Bachmann, 2014.
- Packard, Stephan: Anatomie des Comics. Psychosemiotische Medienanalyse. Göttingen 2006.
- Packard, Stephan, Andreas Rauscher, Véronique Sina et al.: Comicanalyse. Eine Einführung. Stuttgart 2019.
- Preisinger, Alexander: Neoliberale Ökonomie erzählen. Eine narratologisch-diskursanalytische Untersuchung der Kapitalismuskritik in der deutschsprachigen Literatur der 2000er-Jahre. Heidelberg 2015.
- Schäfer Martin Jörg: Die Gewalt der Muße. Wechselverhältnisse von Arbeit, Nichtarbeit, Ästhetik. Zürich, Berlin 2013.
- Schuller, Sebastian: Realismus des Kapitals. Marxistische Literaturtheorie im Zeitalter des globalen Kapitalismus. Paderborn 2021.
- Stahl, Enno, Klaus Kock, Hanneliese Palm, Ingar Solty (Hrsg.): Literatur in der neuen Klassengesellschaft. Paderborn 2020.
- Wiefarn, Markus: Nach dem Klassenkampf. Beobachtungen zu aktuellen Transformationen der Literatur der Arbeit. In: Ole Petras, Kai Sina (Hrsg.): Kulturen der Kritik. Mediale Gegenwartsbeschreibungen zwischen Pop und Protest. Dresden 2011. S. 51–66.