Vernon, James: Hunger. A Modern History. Cambridge, Mass.: Belknap Press 2007. ISBN 0-674-02678-0; 369 S.; $ 29.95.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Marcel Streng, Universität Bielefeld
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"Hunger, after all, is a big history" - diese Feststellung gibt James Vernon den LeserInnen einleitend mit auf den Weg. An Arbeiten zur Sozial- und Kulturgeschichte des Hungers und seiner Bewältigung in der Moderne mangelt es zwar nicht. Doch orientiert an diskurs- und wissensgeschichtlichen Ansätzen gräbt Vernon gewissermaßen im Rücken der modernisierungstheoretisch aufgeladenen Historischen Sozialwissenschaft: Im Mittelpunkt der Studie steht Hunger als historisches Konzept sowie sein Beitrag zur "Versammlung des modernen Sozialen" (Bruno Latour) in Großbritannien. Vernon bezweifelt nicht, dass Hunger schmerzt. Aber der jeweils aktuelle historische Sinn des Hungers wird als kommunikativ formiert betrachtet. So kann ein "modernes Regime des Hungers" fokussiert und untersucht werden, welche "Regierungsweisen" (Michel Foucault) des Hungers daran geknüpft waren (S. 3, S. 4-7).
Die Repolitisierung des Hungers in England seit den 1880er-Jahren beschreibt Vernon als vehemente Infragestellung des von Malthus und Smith geprägten "moralischen Regimes" des Hungers. In intensiven "Hungry England"-Debatten wurden die Hungerleidenden zunehmend nicht als für ihr Schicksal selbst verantwortlich angesehen; stattdessen wurde an das Mitgefühl der Bürger appelliert. Diese Transformation des Hungers von einer individuellen Schuld in ein überindividuell verursachtes Leid konstituierte das Soziale der britischen Gesellschaft um 1900 unter sozialethischen Prämissen. Das "liberale Regime" des Hungers ermöglichte nicht nur neue Protesttechniken wie Hungermärsche und Hungerstreiks. An der "humanitären Wiederentdeckung des Hungers in England" (S. 17ff.) hatten auch sozial- und bevölkerungswissenschaftliche Forschungen über Armut teil, in denen ältere diätetische Hungerkonzepte zunehmend Konkurrenz durch spezifisch ernährungswissenschaftliches Wissen erhielten.
Der Heterogenese des ernährungswissenschaftlichen Hungerkonzepts im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ist einer der faszinierendsten Abschnitte gewidmet. Die Versuche der Armutsstatistiker, Hunger mess- und kalkulierbar zu machen, wurden durch die Verknüpfung diätetischer Lehren mit arbeitswissenschaftlichen Methoden auf eine neue Grundlage gestellt. Die ersten ernährungswissenschaftlichen Laboratorien wie das "Rowett Institute" in Aberdeen (1922) entstanden, nachdem die Versorgungsprobleme des Ersten Weltkriegs die Nützlichkeit dieses Wissens erwiesen hatten. Mit Apparaten ausgestattet, die Aufschluss über den Energieumsatz des "Motors Mensch" (Anson Rabinbach) geben sollten, erarbeiteten Ernährungswissenschaftler wie John Boyle Orr Aussagen darüber, wie viele Kalorien der "männliche weiße" Metabolismus brauchte, um gesund und produktiv zu bleiben.
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