Lesemann, Silke; Lubinski, Axel: Ländliche Ökonomien. Arbeit und Gesellung in der frühneuzeitlichen Agrargesellschaft. Berlin: BWV Berliner Wissenschaftsverlag 2007. ISBN 3-8305-1375-5; 286 S.; EUR 34,00.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:Niels Grüne, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität BielefeldE-Mail: [mailto]ngruene@geschichte.uni-bielefeld.de[/mailto]
Vor etwa 15 Jahren hat die von Jan Peters ins Leben gerufene Max-Planck-Arbeitsgruppe "Ostelbische Gutsherrschaft als sozialhistorisches Phänomen" (1992-1996) einen Paradigmenwechsel in der Untersuchung gutsherrschaftlich geprägter Agrarregionen eingeleitet.[1] Durch ihre Ausrichtung an einer anthropologischen, akteurszentrierten Perspektive trug sie entscheidend dazu bei, diesen klassischen Gegenstandsbereich für methodische und inhaltliche Impulse aus der jüngeren Sozial- und Kulturgeschichte zu öffnen.[2] Die Forschungsbemühungen setzten sich über das Bestehen der Arbeitsgruppe hinaus fort und fanden eine publizistische Heimat unter anderem in den "Potsdamer Studien zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft".[3] Mit der vorliegenden, ursprünglich als Band 5 dieser Reihe geplanten Aufsatzsammlung zur ländlichen Ökonomie schließt sich mit einiger Verspätung nun in gewisser Weise der thematische Kreis.
Zu Beginn heben Silke Lesemann und Axel Lubinski als Kernziel hervor, die Analyse wirtschaftlichen Denkens und Handelns in frühmodernen dörflichen Gesellschaften auf Aspekte des Arbeitsalltags und des Ressourcentransfers zu lenken und der Einbettung ökonomischer Tätigkeiten in soziale Netzwerke genauere Beachtung zu schenken. Sie knüpfen explizit an eine in der neuen Agrargeschichte breite Tendenz an, sich angesichts der empirischen Evidenz vielfältiger Austauschprozesse zwischen ländlichen Haushalten und Individuen vom Modell des autarken ‚ganzen Hauses' (Otto Brunner) zu lösen. Zur Konzeptualisierung der "lokale[n] Formen sozialer Beziehungen" (S. 11) - besonders jenseits institutionell verfestigter Interaktionsmuster - führen die Herausgeber den von Heide Wunder vorgeschlagenen Begriff der ‚Gesellung' ein.[4] Als Referenzpunkt für die Einzelstudien soll er auf die Kohäsionskraft und den Verbindlichkeitsgrad relativ informeller Personengeflechte im ruralen Milieu verweisen, die vor allem aus den komplementären Wirtschaftspraktiken unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erwuchsen, und damit zugleich die "Interessenhaftigkeit von Formen des Zusammenlebens und Agierens" (S. 12) akzentuieren.
Den Herausgebern folgend lassen sich die zehn Aufsätze drei Themenblöcken zuordnen. Fünf Beiträge konzentrieren sich auf die Erscheinungsformen und Wahrnehmungen von Arbeit im ländlichen Raum. So illustriert Lieselott Enders am Beispiel der Prignitz, wie sich die Markt- und Rentabilitätsorientierung bäuerlicher Betriebe in Extensivierungs- und Intensivierungsbemühungen niederschlug. Jan Peters erläutert ebenfalls für die Prignitz - speziell die Herrschaft Plattenburg-Wilsnack - die Widersprüche und Kompromisse, die sich aus der Konfrontation bäuerlicher und gutsherrlicher Bedürfnisse hinsichtlich der Hofdienste von Untertanen ergaben. Mit den Rechtsgrundlagen und Formen unfreier Arbeit im Herzogtum Bayern beschäftigt sich Renate Blickle, die zwischen statusbedingten Dienstpflichten (z.B. Gesindezwangsdienst, Scharwerk, Militärdienst) und "urteilsbegründeter" Zwangsarbeit (Kriminalstrafen) differenziert. Axel Lubinski beleuchtet die Ausprägung von Lohnarbeit im Mecklenburg-Strelitz des 18. Jahrhunderts. Für das Gesinde demonstriert er unter anderem, dass sich Bauernknechte gegen den Willen der Gutsherren häufig auf der Basis von Naturaldeputaten (Getreideaussaat) als "kleine Agrarproduzenten" (S. 119) betätigen konnten, weil sie aufgrund von Arbeitskräfteknappheit und ihrer Einbindung in sozioökonomische Reziprozitätsnetze eine relativ günstige Verhandlungsposition besaßen. Marion W. Gray schließlich widmet sich anhand des königlichen Vorwerksdorfes Schlalach in Brandenburg den ökologischen Veränderungen, die sich seit den 1760er-Jahren infolge der Ansiedlung von Büdnern als einer neuen Schicht landwirtschaftlicher Lohnarbeiter und der damit zusammenhängenden intensivierten Bodennutzung abzeichneten. Gray rekurriert in diesem Themenblock auch als einziger ausdrücklich, wenngleich eher kursorisch auf den Begriff 'Gesellung' zur Charakterisierung des bäuerlich-herrschaftlichen Verhältnisses.
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