Lih, Lars T.: Lenin Rediscovered. What Is to Be Done? in Context (= Historical Materialism 9). Leiden: Brill Academic Publishers 2006. ISBN 9-004-13120-5; geb.; 867 S.; EUR 134,00.
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Marcel Bois, Universität Hamburg
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"In the early 1900s, an exiled lawyer in Europe published a pamphlet called 'What Is To Be Done?' - in which he laid out his plan to launch a communist revolution in Russia. The world did not heed Lenin's words, and paid a terrible price. The Soviet Empire he established killed tens of millions, and brought the world to the brink of thermonuclear war."[1]
US-Präsident George W. Bush ist sicherlich kein Experte für die Geschichte der russischen Sozialdemokratie um 1900. Nichtsdestotrotz gibt er in seiner vor der "Amerikanischen Vereinigung der Militäroffiziere" im September 2006 gehaltenen Rede in zugespitzter Form eine These wieder, die mehrheitlich auch von den Protagonisten der historischen Kommunismusforschung vertreten wird: Lenin habe mit seiner 1902 erschienenen Broschüre "Was tun?" ein Organisationskonzept vorgelegt, das schließlich in der Ein-Parteien-Diktatur Stalins enden musste.
Schon die ältere Forschung sah in "Was tun?" das "Evangelium der bolschewistischen Organisatoren". Lenin habe dort "seine Ansichten über Parteiorganisation und politische Strategie und Taktik nieder[gelegt], denen er sein ganzes Leben lang treu blieb."[2] An dieser Einschätzung hat sich bis heute nichts geändert. Stephen Eric Bronner schrieb noch vor wenigen Jahren, Lenin habe mit der Broschüre "den Leninismus und seine Organisationstheorie" begründet.[3] Und auch Robert Service meint:
"Es war ein Werk seiner Zeit, aber seine Grundannahmen und Einstellungen hatten Einfluß auf die Entscheidungen der Kommunistischen Partei Russlands in der ganz anderen Situation nach der Oktoberrevolution von 1917".[4]
Unterstützt wurden diese Ansichten auch durch entsprechende Darstellungen aus dem Ostblock, wo Lenins Werk - genau wie das von Marx und Engels - dogmatisch entstellt wurde und vor allem zur Legimitation der Ein-Parteien-Diktaturen diente. In einem in der DDR erschienenen Buch zur Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion ist beispielsweise zu lesen: "Lenin erkannte als erster Marxist, daß die Arbeiterklasse eine Partei neuen Typs braucht. In der Schrift ‚Was tun?'hat er seine Anschauungen von der Partei, von ihrem Charakter und ihrer Rolle in der Arbeiterbewegung und von den Grundprinzipien ihrer Tätigkeit dargelegt. [... Er] arbeitete die Lehre aus von der Partei als dem politischem Führer des Proletariats."[5]
Lars T. Lih hält diese Darstellungen für Mythen. Der in Princeton promovierte und in Montreal lebende Politologe ist der Meinung, dass Lenin mit seiner Schrift keineswegs ein allgemeingültiges Organisationskonzept habe vorlegen wollen. Er stützt sich dabei auf eine Aussage des russischen Revolutionärs aus dem Jahr 1907 (S. vii): "Der Grundfehler jener, die heute gegen 'Was tun?' polemisieren, ist der, daß sie dieses Werk völlig aus dem Zusammenhang einer bestimmten historischen Situation, einer bestimmten, jetzt schon längst vergangenen Entwicklungsperiode unserer Partei herausreißen."[6] Diesen Vorwurf reicht Lih an die Forschung weiter: "But even the experts worked without proper knowledge of context - particularly the large context of international Social Democracy and the small context of the polemical infighting among Russian Social Democrats in late 1901." (S. 5)
Lihs Anliegen ist es, mit dem vorliegenden Buch das zu überwinden, was er die "textbook interpretation" von "Was tun?" nennt: "I call this consensus 'the textbook interpretation' because, at least from the mid-1950s, this reading of WITBD [What Is To Be Done] has found its way into textbooks of political science and of Russian history, and, from there, into almost any secondary account that has reason to touch on Lenin. The two or three famous passages that form the textual basis of this reading are endlessly recycled from textbook to popular history to specialised monograph and back again." (S. 13f.)
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