Wagner, Vivian: Erinnerungsverwaltung in China. Staatsarchive und Politik in der Volksrepublik. Köln: Böhlau Verlag/Wien 2006. ISBN 978-3-412-31405-7; XIII, 747 S.; EUR 74,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult von:
Daniel Leese, Institut für Sinologie, Ludwig-Maximilians-Universität München
E-Mail: [mailto]daniel.leese@ostasien.fak12.uni-muenchen.de[/mailto]
In der Einleitung ihrer umfangreichen Arbeit über Konzepte, Sammlungsaktivitäten und Funktionen des Archivwesens in der Volksrepublik China beschreibt Vivian Wagner, dass die häufigste Reaktion auf die Ankündigung ihres Themas in freundlichem Bedauern über die Wahl eines sowohl "staubtrockenen" als auch scheinbar uferlosen Projekts bestanden habe. Dabei gibt es für Historiker, die auf Basis chinesischer Quellen arbeiten, wohl kaum ein Thema, das mehr Spannung und Erkenntnisgewinn für die eigene Forschungsarbeit verspricht. Wer Gelegenheit hatte, persönliche Erfahrung mit der Geheimniskrämerei und der hochgradig willkürlichen Gewährung von Archivzugang insbesondere bei Fragestellungen im Bereich der neueren chinesischen Geschichte zu sammeln, wird in diesem Buch auf viele bekannte Details stoßen. Aber darüber hinaus leistet die Darstellung noch weitaus mehr, indem sie die Einzelbeobachtungen in einen systematischen Kontext stellt und sowohl die normativen Vorgaben der Kommunistischen Partei Chinas als auch die Nutzerperspektive konsequent verfolgt.
Die Arbeit gliedert sich in zwei große Teile: Der erste Teil behandelt die Genese der spezifisch chinesischen Form von "Erinnerungsverwaltung", ein Begriff, mittels dessen nicht nur die politisch-utilitaristische Nutzung der Archivbestände beleuchtet werden soll, sondern auch die Selektions- und Kategorisierungsprozesse der Verwaltung, die als "erinnerungshygienische Aufbereitungsanlage" (S. 57) zunächst der dynastischen Legitimität, später der Befestigung der kommunistischen Parteidiktatur dienten. Im zweiten, deutlich umfassenderen Teil wird die archivalische Praxis der VR China im Wandel der Zeitläufte zwischen 1949 bis zur Jahrtausendwende nachgezeichnet. Hierbei unterscheidet die Autorin drei Phasen, deren Abgrenzungen aber in der Gliederung durch rhetorische Fragen in Zweifel gezogen werden: Das "orthodoxe Modell"(1949-1965) basierend auf einer einzigartigen Verschmelzung der sowjetischen Blaupause mit chinesischen Traditionslinien, der "Negation des orthodoxen Modells" in den Jahren der Kulturrevolution (1966-1976) und schließlich die Phase der "Restauration oder Reform des orthodoxen Modells" (1977-heute).
Die Erinnerungsverwaltung der Volksrepublik beschreibt Vivian Wagner als Synthese indigener Archivtraditionen des chinesischen Kaiserreichs, in welchen das Archiv überwiegend als "Funktionsgedächtnis" (AleidaAssmann) fungierte [1], und ausländischer Einflüsse. Hierbei unterscheidet sie einen westlich-geprägten Ansatz unter der Herrschaft der Guomindang, welcher prinzipiell den Informationswert der Quelle betonte, aber dennoch keinerlei Öffentlichkeit zuließ, sowie die Tradition der KP-Guerillaarchive unter dem Einfluss sowjetischer Berater. Mit Gründung der Volksrepublik erhielt die Leninsche Vorstellung eines "Nationalen Archivfonds", der auf eine totale Erfassung und Kontrolle des Schriftgutes abzielte, kanonischen Charakter und fungierte als zentrales Gliederungselement bei der Sortierung des Aktenmaterials in drei Bestände: Akten des alten Regimes, revolutionsgeschichtliche Akten und die nach der Staatsgründung entstandenen Akten. Ein großes Verdienst dieser Arbeit ist es dabei, dass sie nicht nur die allgemeinen Richtlinien darlegt, sondern den Versuch unternimmt, die Implementierung der politischen Vorgaben bis hinunter zur Ebene der Kreisarchive zu verfolgen. Hierbei ergaben sich zwangsläufig Spannungen und Konflikte, etwa aus Gründen des Platzmangels, der Unkenntnis oder aber persönlicher Interessen, welche der totalen Erfassung entgegenstanden.
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