Im Sommer 1904 trafen sich in der Berliner Philharmonie einige hundert Delegierte aus den sechzehn Mitgliedsländern des Internationalen Frauenbundes (International Council of Women, ICW). In zwanzig verschiedenen Sektionen diskutierten sie Fragen der Frauenbildung, der rechtlichen Stellung von Frauen, der weiblichen Berufstätigkeit sowie das weite Feld ihres sozialen Engagements. Öffentliche Abendveranstaltungen mit prominenten Rednerinnen wie der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner oder der amerikanischen Ökonomin Charlotte Perkins waren schon Stunden vor Beginn bis auf den letzten Platz besetzt. Dieser internationale Kongress zog in vieler Hinsicht weite Kreise; er bewies zum einen, wie Alice Salomon, eine der Mitorganisatorinnen, betonte, "daß die vereinte Kraft tüchtiger Frauen Veranstaltungen schaffen kann, die in Bezug auf Organisation, wissenschaftliche und rhetorische Leistungen sich den glänzendsten Kongressen von Männern zur Seite stellen können."[1] Zum anderen wurde die deutsche Frauenbewegung nach diesem 'glänzenden' Kongress geradezu gesellschaftsfähig; zumindest nahmen jetzt "die offiziellen Kreise Berlins die Existenz von progressiven, akademisch gebildeten und arbeitenden Frauen zur Kenntnis."[2]
Der Kongress in Berlin war nicht der erste seiner Art, wenn auch der erste Frauenkongress dieser Dimension in Deutschland. Wie schon seine Vorgänger in Chicago 1893 und London 1899 diente er dem Knüpfen von Netzwerken in den Frauenbewegungen; viele ihrer Mitglieder schätzten solche Veranstaltungen vor allem wegen der Möglichkeit, neue Kontakte aufzubauen. Selbst Gertrud Bäumer, die 1910 Marie Stritt als Vorsitzende des Bundes deutscher Frauenvereine (BDF) ablöste, anders als diese aber vom Nutzen internationaler Frauenorganisationen nicht immer überzeugt war, äußerte sich nach dem Berliner Kongress enthusiastisch: "[W]ie schnell entstand jene Atmosphäre des gegenseitigen Sichkennenlernens und Findens, die in wenigen Stunden so schöne Beziehungen schuf."[3]
Der Kongress in Berlin verdeutlicht exemplarisch, welche Möglichkeiten und Chancen solche großen Treffen für die Bewegung boten, aber auch, welche Risiken in ihnen verborgen waren. Denn trotz des glänzenden Erfolges, der der Öffentlichkeit präsentiert wurde, gab es im Hintergrund Debatten darüber, wann welche Person wo was sprechen konnte oder sollte, wer eingeladen wurde und wer eben auch nicht. Kongresse werden so verstanden auch zu Orten der Herstellung einer hegemonialen Deutung der gemeinsamen Bewegung.
Neben diesen internationalen Großereignissen standen aber auch nationale Tagungen und Kongresse, auf denen bestimmte Themen gemeinsam erarbeitet, bzw. Agitationen der Bewegung geplant wurden.
Die nächste Ausgabe der Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, möchte sich diesen spezifischen Orten (inter)nationaler Zusammenarbeit zuwenden. Im Zentrum sollten Kongresse der (inter)nationalen Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts stehen; es ist allerdings auch möglich, Kongresse anderer sozialer Bewegungen zu untersuchen, wenn sich diese mit einem Thema der Frauenbewegung beschäftigten. Artikel, die sich den Erfahrungen von Frauen auf gemischtgeschlechtlichen Kongressen zuwenden, sind ebenfalls möglich.
Mögliche Zugänge sind:
Welche Kongresse fanden wann wo statt? Spiegeln die Themen der Kongresse die Themen der Bewegung wieder? Welche Rolle spielten nationale oder internationale Kongresse/Tagungen in der Bewegung? An welchem Entwicklungspunkt der Bewegung werden diese Ereignisse platziert? Sind Kongresse eine Art der ‚Propaganda‘ für die Bewegung? Wirken Kongresse stärker in die Bewegung hinein oder aus der Bewegung heraus?
Gibt es stilbildende Kongresse? Kongresse, die eine gesellschaftliche oder politische Situation entscheidend prägten oder aus denen heraus eine soziale Bewegung entsprang?
Welche Art von Mobilität machen diese Ereignisse überhaupt erst möglich? Wie wird diese Mobilität möglich, wie wird sie finanziert und welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen erfüllt sein, um (inter)nationale Kongresse besuchen zu können?
Welche Möglichkeiten der Kommunikation hatten und nutzten die Teilnehmerinnen?
Wie werden Kongresse organisiert? Wie finanziert? Wie vermarktet? Wie dokumentiert?
Wie reagiert die Öffentlichkeit auf diese Ereignisse?
Wie beeinflussen sich (inter)nationale Kongresse gegenseitig?
Welche Akteur/innen nutzen wie das Kongressgeschehen zu was? Definierten sich diese Personen selber national oder international? Welche Erfahrungen machten sie?
Kongresse verstanden als politische ‚Arenen‘ verweisen auf den Orte der Inszenierung. Wie sieht die ‚Theatralik, das Spektakel‘ aus, welches die politische Praxis immer schon begleitet hat.[4]
Welche Ausschlüsse und Einschlüsse werden auf Kongressen sichtbar?
Ist ein internationales Engagement überhaupt ohne nationales Engagement denkbar? Wie sieht die Verbindung zwischen nationalem und internationalem Engagement aus?
Welches Verständnis hatten die verschiedenen Richtungen innerhalb der Bewegungen von (inter)nationalen Kongressen?
Das Jahrbuch »Ariadne – Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte« wird vom Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF; Archiv, Bibliothek und Forschungszentrum zur Geschichte der deutschen Frauenbewegung), herausgegeben. Im Zentrum der Publikation stehen als Ausgangspunkt immer die Frauenbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts und die mit diesen Bewegungen verbundenen Ideen, Theorien und Praxen. Wir freuen uns auf entsprechende Artikelvorschläge. Die einzelnen Beiträge haben i. d. R. einen Umfang von ca. 38.000 Zeichen, d. h. ca. 10-12 Manuskriptseiten. In Ausnahmefällen (zum Beispiel für einen einleitenden Artikel) kann von dieser Maßgabe abgesehen werden. Redaktionsschluss ist der 15. Oktober 2019, das Heft erscheint im Juni 2020. Wenn Sie Interesse an der Abfassung eines Artikels haben, reichen Sie uns bitte bis zum 1. Mai 2019 ein aussagekräftiges Exposé (1-1½ Seiten) ein. Da sich die genaue inhaltliche Gestaltung nach den eingehenden Exposés richtet, reichen Sie bitte auch Aufsatzideen ein, die am Rande des Themas zu liegen scheinen.
It is also possible to submit an article in English.
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Ariadne-Redaktionsteam:
Dr. Anja Schüler, Heidelberg Center for American Studies, aschueler@hca.uni-heidelberg.de
Dr. Kerstin Wolff, Archiv der deutschen Frauenbewegung, wolff@addf-kassel.de
[1] Alice Salomon: Der Internationale Frauenkongress, in: Soziale Praxis, 13. Jg., 1904, Sp. 1041.
[2] Alice Salomon: Charakter ist Schicksal, Weinheim 1983, S. 81.
[3] Gertrud Bäumer: Eindrücke vom Internationalen Frauenkongress, in: Die Frau, 11. Jg., 1903/04, S. 578.
[4] Basierend auf: Dietlind Hüchtker: Geschichte als Performance. Politische Bewegungen in Galizien um 1900, Frankfurt a.M. 2014.