50. Konferenz der International Association of Labour History Institutions (IALHI), 11.09.2019 – 14.09.2019 Alcalá de Henares, in: H-Soz-Kult, 18.10.2019, <www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8480>.
Aus Anlass des 80. Jahrestages des Endes des Spanischen Bürgerkriegs war der Beitrag von Bibliotheken und Archiven zu Erinnerungskulturen demokratischer Gesellschaften die leitende und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtete Fragestellung der von der Stiftung Pablo Iglesias in Alcalá de Henares ausgerichteten Veranstaltung. Darüber hinaus war die Digitalisierung als spezifische Herausforderung für Gedächtniseinrichtungen in diesem Jahr erneut ein wesentlicher Schwerpunkt.
Am Beispiel Spaniens schilderte SEVERIANO HERNANDEZ VICENTE (Madrid) die Rolle von Archiven als Orten der Information, Bildung und Forschung, die in der spanischen Verfassung verankert ist. ANTONIO GONZALEZ QUINTANA (Madrid) wies zudem an weiteren Beispielen auf die Bedeutung von Archiven als Gedächtniseinrichtungen für Gesellschaften in Transformationsprozessen hin, wie nicht zuletzt auch der Umgang Deutschlands mit den Akten der Stasi nach dem Zusammenbruch der DDR zeigte.
GUTMARO GOMEZ BRAVO (Madrid) ergänzte den Blickwinkel der wissenschaftlichen Forschung, die einen ungehinderten Zugang zu den Quellen einfordert. Gerade hierin liegt jedoch ein potenzieller Konflikt, wenn Datenschutz- oder Persönlichkeitsrechte berührt sind oder aber als gesperrt klassifizierte Akten nicht freigegeben werden. Es wurde deutlich, dass Archive in diesem Abwägungsprozess über einen Handlungsspielraum verfügen, der jedoch dann an seine Grenzen gerät, wenn die aktenbildenden Institutionen Akten vorenthalten oder aber als nicht zugänglich klassifiziert abgeben. Archive werden damit zu Akteuren im demokratischen Aushandlungsprozess und verfügen – in begrenztem Maße – über Gestaltungsmöglichkeiten und Raum zur Partizipation an gesellschaftlichen Diskursen.
Neben diesen sehr grundsätzlichen Ausführungen wurde in einigen Vorträgen konkret herausgearbeitet, wie die historische Gedächtnisbildung selbst als geschichtliche Momentaufnahme gelesen werden kann. Die eingenommene Perspektive konstituiert dabei den zu historisierenden Ordnungsrahmen. Der wechselhafte Umgang der Bevölkerung Manchesters mit der in Anlehnung an Waterloo als Peterloo bezeichneten blutigen Niederschlagung einer demokratischen Erhebung 1819 reichte von Verdrängung bis hin zur Installation eines Kunstwerks des Turner-Preisträgers Jeremy Deller 2019. JANETTE MARTIN (Manchester) arbeitete dabei demokratiefeindliche sowie ökonomische – und sich daher unpolitisch gebende – Einstellungen heraus, die sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts zu einem positiven Bekenntnis zur eigenen lokalen demokratischen Tradition wandelten.
Das von AKIRA SUZUKI (Tokio) beleuchtete Gedenken an die Atombombenopfer von Hiroshima und Nagasaki fand mit der Organisation Gensuikin institutionellen Ausdruck, der bald nach seiner Gründung 1955 im Kontext der Ost-West-Auseinandersetzung politisiert wurde und in eine Aufspaltung des Komites mündete. Zudem war das Eintreten für die Opfer der Atombombenangriffe ein wichtiges Anliegen des Gensuikin, womit ein weiteres zentrales Motiv in erinnerungspolitischen Diskursen herauspräpariert wurde.
Dass Archive auch mit pädagogischen Angeboten für verschiedene Zielgruppen am erinnerungspolitischen Diskurs teilnehmen, konnten MEIRIAN JUMP (London) und VITTORE ARMANNI (Mailand) zeigen, die über Schülerangebote, eigens produzierte Filme und Gedenkkalender berichteten.
Digitale Überlieferungsbildung und Archivierung im Bereich der Arbeiterbewegungs- und Sozialgeschichte bildeten die Klammer verschiedener weiterer Beiträge. Die Herausforderungen der in der IALHI zusammengeschlossenen Gedächtnisinstitutionen unterscheiden sich dabei nicht grundsätzlich von denen staatlicher oder anderer Sparteneinrichtungen. Während OLE MARTIN RONNING (Oslo) von erfolgreich verlaufenen Projekten zur Übernahme von Akten aus norwegischen Gewerkschaftsverwaltungen berichtete, bezogen sich MAARTEN SAVELS (Gent) und ANDREAS MARQUET (Bonn) auf die spezifische Form der Webarchivierung. Eine über die reine Auffindbarkeit hinausgehende technische Dokumentation, die ForscherInnen zur digitalen Quellenkritik zur Verfügung stehen wird, ist zentraler Gegenstand einer umfassenden Metadatenkonzeption von Savels. Demgegenüber konnte Marquet am Beispiel der 20 Jahre zurückreichenden Webarchivbestände die Bedeutung standardisierter Formate und Strukturen deutlich machen und damit auf eine – neben den Metadaten – weitere wichtige Voraussetzung der digitalen Langzeitarchivierung abheben. Auch JENNY JANSSON (Uppsala) befasste sich in ihrem Beitrag mit der Webarchivierung, die im Rahmen des Projekts DigiFacket direkt mit der politikwissenschaftlichen Forschung verbunden ist.
ERIC DE RUIJTER (Amsterdam) demonstrierte, wie auch an analogen Unterlagen digitale Methoden und Fragestellungen angewendet werden können. Als Grundlage dienen ihm digitalisierte und volltexterfasste Mitgliedskarten der Diamantenschleifergewerkschaft, deren Daten standardisiert und angereichert wurden. Damit können die bekannten Migrationsbewegungen ins belgische Antwerpen anhand einer spezifischen Berufsgruppe quantifiziert und Rückschlüsse auf nachbarschaftliche Milieus in Amsterdam und Antwerpen gezogen werden.
Innovativ war auch der Beitrag von FABIAN WÜRTZ (Zürich) über ein Projekt, in dem Archiv, universitäre Forschung und politische AkteurInnen kollaboriert haben. Zur Überlieferungsbildung zum Frauenstreik 2019 in der Schweiz wurde mit einem Crowd-Sourcing-Ansatz zahlreicher Content auf eine eigens eingerichtete Website hochgeladen, um die vielen verschiedenen Aktivitäten möglichst breit zu kartieren. Hier hat das Archiv bereits im Entstehungsprozess der Überlieferungsbildung eine aktive Rolle eingenommen und einen Weg aufgezeigt, wie digitale Ansätze mit begrenzten Ressourcen fruchtbar gemacht werden können. Auch bei diesem Beispiel schließt sich freilich die Frage an, wie WissenschaftlerIinnen einer solchen Quelle angemessen kritisch begegnen.
Eine Reihe weiterer Vorträge verdeutlichte das breite Spektrum der Aktivitäten und Bestände der IALHI-Mitgliedseinrichtungen. Zudem wurden ein Workshop zum Metadatenportal socialhistoryportal (www.socialhistoryportal.org) sowie eine Einführung in die digitale Langzeitarchivierung angeboten. Die 51. Konferenz der IALHI wird vom 9. bis 12. September 2020 in Zürich stattfinden und vom Schweizer Sozialarchiv ausgerichtet werden.
Konferenzübersicht:
IALHI Mitgliederpräsentationen
Eric de Ruijter (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam): Bringing the Dutch diamond workers to life: From membership cards to linked research data
Maarten Savels (AMSAB-Institut für Sozialgeschichte, Gent): Archiving of websites: A pilot project
Andreas Marquet (Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn): A new approach to webarchiving at the AdsD
Fabian Würtz (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich): Event-based harvesting on the example of the Frauenstreik (women᾽s strike) 2019
Jadwiga Prochalski (Mutualité Française, Paris): Les actions de valorisation du patrimoine historique des mutuelles, menées grâce à l’exploration des archives de la Fédération Nationale de la Mutualité Française
Elena Strukova (State Historical Public Library, Moskau): Publications of the Communist International in the e-library of the Russian Historical Public Library of Russia
Richard Temple (Senate House Library, London): The Balazs Nagy papers
Rodrigo Lucía Castejón (Fundación Pablo Iglesias, Alcalá de Henares): Diccionario Biográfico del Socialismo Español. Compromiso con la Memoria Histórica. Proyecto digital y colaborativo
Hernán Díaz (Centro de Estudios Históricos de los Trabajadores y las Izquierdas, Argentina): El espionaje diplomático contra el maximalismo, en el Río de la Plata de la primera posguerra
Bernhard Bayerlein (Vereinigung zur Förderung des Archivwesens): Report about the activities of the Association for the advancement of archives (VFA)
José Ramón Palacios (Fundación Anselmo Lorenzo): Los retos y consecuciones en el crecimiento exponencial de un archivo social, no institucional
José Hinojosa Durán (Grupo de Estudios sobre la Historia Contemporánea de Extremadura): La reciente labor del GEHCEx en torno a la historia reciente del movimiento obrero en Extremadura
Workshops
Afelone Doek (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam): Social history portal hands-on workshop
Maarten Savels, Eric de Ruijter, Andreas Marquet, Fabian Würtz: Long-term preservation of the contents of hard disks acquired by our institutions
Memory Times. Archive contexts: 80 years since the end of the Spanish Civil War
Severiano Hernández Vicente (Sub-Director General of Archivos Estatales of Spain): Policy for access to state-owned archives of the general subdirectory of State Archives
Gutmaro Gómez Bravo (Universität Madrid): Historical research in archives in the post-truth era
Antonio González Quintana (President of the Archives and Human Rights Working Group, International Council on Archives): The International Council of Archives and the Defense of Human Rights
Archives and libraries as actors in commemorative culture
Jenny Jansson, Katrin Uba, Jaanus Karo (Universität Uppsala): Labour gone digital: Preservation of organizational activities in the on‐line era (DigiFacket)
Ole Martin Rønning (Arbark, Oslo): New approaches of the Norwegian Labour Movement Archives and Library in order to collect and preserve digitally borne material
Aurelio Martín López (Fundación Pablo Iglesias, Alcalá de Henares): Pensar menos desde el hardware y pensar más sobre el software
Almudena Rubio (Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam): Margaret Michaelis y Kati Horna: Fotógrafas de la CNT-FAI durante la Guerra Civil Española
Ioanna Kasapi, Jean-Philippe Legois (Cité des mémoires étudiantes, Paris): Commémorations pièges à cons* ! The 50th anniversary of 68 in France: a polyphonic commemoration! Review and Prospects
Janette Martin (Society for the Study of Labour History, Manchester): Peterloo 1819-2019: A city-wide commemoration
Meirian Jump (Marx Memorial Library, London): An Education in international solidarity. Creatively commemorating the British response to the Spanish Civil War
Vittore Armanni (Fondazione Feltrinelli, Mailand): The civil calendar of Fondazione Giangiacomo Feltrinelli on social and labour history
Akira Suzuki (Ohara Institute for Social Research, Tokio): Commemorating atomic bomb victims of Hiroshima and Nagasaki: Politicization of movements against atomic and hydrogen bombs in Japan