CFP: Armut im Europa der Moderne. Mikroperspektiven auf Ausformungen des Sozialstaats im 19. und 20. Jahrhundert // Poverty in Modern Europe. Micro-perspectives on the Formation of the Welfare State in the 19th and 20th Centuries - London 05/12
SFB 600 "Fremdheit und Armut", Teilprojekte B4 und B5, Universität Trier; in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut London / CRC 600 "Strangers and Poor People", Projects B4 and B5, University of Trier; in cooperation with the German Historical Institute London 10.05.2012-12.05.2012, London, Deutsches Historisches Institut // German Historical Institute, London
Deadline: 01.07.2011
Zum Abschluss der dritten und letzten Förderphase des SFB 600 laden die Teilprojekte B4 "Armut und Armenpolitik in europäischen Städten im 19. und 20. Jahrhundert" und B5 "Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philanthropie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter (1860-1975)" zu einer internationalen Konferenz ein. Die beiden Teilprojekte haben sich in den vergangenen Jahren intensiv mit den Ausprägungen und Bearbeitungsformen von Armut im Zeitraum von ca. 1830 bis ca. 1975 befasst. Zu den fundamentalen Entwicklungen dieser Epoche gehört die Entstehung des modernen Sozialstaats, der zunächst die negativen Nebenwirkungen der Industrialisierung abzufedern versuchte und schließlich seinen Bürgern ein nie dagewesenes Maß an sozialer Sicherheit brachte. Allerdings zeigte die Moderne auch in der Sozialpolitik ihr ambivalentes Gesicht: Soziale Reformen schufen nicht nur mehr Teilhabechancen, sondern auch neue Zugriffsmöglichkeiten auf das Individuum, um gesellschaftlich unerwünschtes Verhalten zu sanktionieren, zu normalisieren, wissenschaftlich zu erklären und im Extremfall 'auszumerzen'.
Inwieweit wirkten sich die übergreifenden Modernisierungsprozesse und die durch sie implizierten Inklusionen/Exklusionen im Alltag von armen und armutsgefährdeten Menschen aus? Die SFB-Teilprojekte fokussieren weniger auf die inzwischen gut erforschten nationalstaatlichen Entwicklungslinien, sondern nehmen die 'Mikroperspektive' lokaler und regionaler Fallstudien ein. Dabei rücken sie insbesondere auch periphere, ländliche Räume und prekär situierte Bevölkerungsgruppen jenseits der städtischen Industriearbeiterschaft ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Unter dem Schlagwort der 'Mikroperspektiven' geht es um regionale und lokale Wahrnehmungen von Armut, die Alltagspraxis von gewährter bzw. verweigerter Unterstützung sowie das Verhältnis zwischen öffentlicher Fürsorge, privater Wohltätigkeit und Solidarnetzwerken.
Damit einher geht die Frage nach Modernisierungs- und Professionalisierungsprozessen in der Fürsorge auf lokaler bzw.regionaler Ebene. Gleichzeitig fragen wir nach Armutsbiographien und den Handlungsmöglichkeiten und Erfahrungen der Armen selbst.
Die Tagung soll eine Kontextualisierung der Projektergebnisse in zweifachem Sinn ermöglichen. Zum einen wird ihre Einbettung in breitere geographische Kontexte angestrebt: Inwieweit sind unsere Forschungsergebnisse regional- oder lokalspezifisch, inwieweit decken sie sich mit den Ergebnissen zu anderen europäischen Untersuchungsregionen und fügen sich somit in übergreifende Entwicklungstrends ein? Zum anderen geht es uns um die Rückbindung der Ergebnisse an den Kontext der methodisch-theoretischen Forschungsdiskussion: Was ist der Gewinn der analytischen Kategorie Inklusion/Exklusion? Inwieweit ist sie anschlussfähig oder überlegen gegenüber anderen Leitkategorien, die die historische Armutsforschung geprägt haben, wie dem Konzept der Sozialdisziplinierung?
Interessiert sind wir vor allem an Beiträgen zu folgenden thematischen Schwerpunkten:
I. Räumliche Muster der Ausprägung von Armut und Sozialpolitiken - vergleichende und theoretische Zugriffe
Beiträge, die sich in übergreifender Perspektive an der Beschreibung und Erklärung von nationalen, regionalen oder lokalen Mustern und Differenzen versuchen.
II. Lokale/regionale Regime von Armenpolitik Mikrohistorische
Fallstudien, die innerhalb eines bestimmten regionalen bzw. kommunalen Untersuchungsraums analysieren, wie sich das Armenwesen ausgestaltete, ausdifferenzierte, partiell modernisierte und welche Erfahrungen die Armen innerhalb dieser Strukturen machten.
III. Zielgruppen von Armenpolitik - Lebensformen, Etikettierungen, Behandlungsweisen
Fallstudien, die von den Armuts- und Marginalisierungsrisiken spezifischer Personengruppen ausgehen (z.B. besonders stigmatisierte und diskriminierte oder aber als besonders würdig bevorzugte Gruppen; spezifische Armutsrisiken etwa von Frauen).
IV. Akteure von Armenpolitik - Motive, Diskurse, Handlungspraktiken
Fallstudien, die auf einzelne Träger des Fürsorgewesens und deren Wirken auf der Mikroebene fokussieren (z.B. einzelne Aktivisten, Einrichtungen, Organisationen, Verbände).
V. Sozialdisziplinierung, Integration/Ausgrenzung, Inklusion/Exklusion - Funktionen und Effekte von Armenpolitik in der Moderne
Bilanzierende Beiträge, die in Auseinandersetzung mit der Historiographie der letzten Jahrzehnte zentrale Konzepte der Armuts- und Sozialstaatsforschung reflektieren, ggf. ausgehend von einer Fallstudie:
Welchen Beitrag leisten historische Fallstudien zur Weiterentwicklung solcher zentralen Konzepte? Lassen sich im längerfristigen historischen Verlauf Bruchstellen feststellen, an denen sich die Inklusions-/Exklusionsmechanismen verschieben?
Interessenten werden gebeten, Vorschläge für Tagungsbeiträge in Form eines Abstracts (max. 800 Wörter) in deutscher oder englischer Sprache zusammen mit einem kurzen Lebenslauf bis 1. Juli 2011 per Email an Elisabeth Grüner, gruener [at] uni-trier.de, zu senden.
As CRC 600 reaches the end of its third and final grant period, research projects B4 "Poverty and the Politics of Poverty in European Cities in the 19th and 20th centuries" and B5 "Poverty in Rural Regions between Welfare Politics, Charity and Self-Help during the Industrial Age (1860-1975)" will be hosting an international conference. Both projects have been intensely studying forms and characteristics of poverty in Europe from the 1830s to the 1970s. One of the fundamental trends during this period is the development of the modern welfare state. While originally trying to alleviate the negative side effects of industrialisation, the welfare state ultimately offered its citizens an unprecedented degree of social security. Yet the ambivalence of modernity is also evident in the realm of social policy. Social reforms not only established greater opportunities for participation, but also created new ways of controlling individuals in order to sanction, normalise, scientifically explain or - in extreme cases - eradicate deviant behaviour.
But how did the overarching processes of modernisation and the inclusions and exclusions they implied influence poor people's everyday lives? Instead of focusing on the well-researched macro-trends, the projects engage in local and regional case studies from a micro-perspective. Particular attention is paid to peripheral rural regions and precariously situated segments of society beyond the urban industrial working class. Topics of interest include regional and local perceptions of poverty, everyday practices of granting and refusing relief, as well as the relations between public welfare, philanthropy and networks of solidarity. This also involves questions about processes of modernisation and professionalisation in local and regional welfare systems. At the same time the projects are looking at biographies of the poor as well as the agency and experiences of the poor themselves.
The conference is intended to facilitate the contextualisation of the projects' findings in two ways. First, we aim to embed the results of our research into a wider geographical context. Are our findings specific to certain regions, or do they correspond to findings about other regions in Europe, thus conforming to general trends? Second, we want to link our findings to methodological and theoretical discussions.
What are the benefits of the analytical categories of inclusion/exclusion? To what extent can these categories be connected with other leading categories that have shaped historical research on poverty, such as the concept of social disciplining?
We are especially interested in papers covering the following main aspects:
I. Spatial patterns of poverty and social policies - comparative and theoretical approaches
Papers aiming to describe and explain national, regional or local patterns and differences.
II. Local/regional regimes of welfare policies
Micro-historical case studies on specific regional or local areas which analyse how systems of poor relief were configured, differentiated, partially modernised and how the poor themselves experienced these systems.
III. Target groups of poverty politics - ways of life, labelling, ways of treatment
Case studies which take the risks of poverty and marginalisation for specific groups of poor as a starting point (e.g. groups that were especially stigmatised or discriminated against, or that were privileged as especially deserving; specific risks of poverty for women).
IV. Agents in poverty politics - motifs, discourses and practices
Case studies which focus on institutions within the system of poor relief and how they function at micro-level (e.g. individual activists, facilities, organisations, associations).
V. Social disciplining, integration/marginalisation, inclusion/exclusion - operations and effects of poverty politics in the modern era
Papers which deal with recent methodological debates and reflect on central concepts in the historiography of poverty and welfare, possibly starting from a case study. What contributions can historical case studies make towards refining such central concepts? Is it possible to detect turning points within long-term historical trends when the mechanisms of inclusion and exclusion shifted?
Interested applicants should submit a short abstract (max. 800 words) of their paper in English or German and a brief CV. Please e-mail Elisabeth Grüner, gruener [at] uni-trier.de, by 1st July 2011.
http://www.sfb600.uni-trier.de
[Cross-posted, with thanks, from H-Soz-u-Kult]