Oltmer, Jochen: Migration und Politik in der Weimarer Republik.Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005. ISBN 3-525-36282-X; geb.; 564 S.; EUR 49,90.
Rezensiert für H-Soz-u-Kult
von: Bjoern Hofmeister, Department of History, Georgetown University
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Das "lange 19. Jahrhundert" und der Zweite Weltkrieg versetzten jeweils 50 bis 60 Millionen Menschen in Europa in gewaltige Wanderungsbewegungen. Auch die europäische Zwischenkriegszeit gilt nicht nur als Zeitalter des Aufstiegs totalitärer Herrschaftsformen, sondern ebenso als eine Epoche der anhaltenden und forcierten Wanderungsbewegungen, Umsiedlungen und Vertreibungen: Mitte der 1920er Jahre waren 9,5 Millionen Menschen davon betroffen. Als Folge der Neudefinition räumlicher Umgrenzung staatsterritorialer Souveränität vor allem in Osteuropa waren Flüchtlinge und Vertriebene nach 1918 einer verstärkt restriktiven Asylpolitik ausgesetzt, die, wie Hannah Arendt es formulierte, ein "Ende der Menschenrechte" bedeutete, weil sie ein "Volk der Staatenlosen" in Europa schuf. [1]
Jochen Oltmer vermerkt einleitend, dass sich die Migrationsforschung bisher der Zwischenkriegszeit nicht hinreichend annahm. Der Autor legt mit seiner Habilitationsschrift zur Migrationspolitik in der Weimarer Republik nun erfolgreich einen "vertieften Überblick" über Migrationsverhältnisse und Wanderungspolitik in Deutschland zwischen 1918 und 1929/33 vor. [2]
Da Migration auch nach 1918 vor allem transnationale Wanderung meint, bezieht Oltmer mehrere Aspekte zwischenstaatlicher Wanderungsbewegungen ein. Im Anschluss an ein ausführliches Einleitungskapitel zum "Politikfeld Migration" beschäftigen sich die Abschnitte 2 bis 6 vor allem mit den "Abwanderern" aus Elsass-Lothringen und Polen, den russlanddeutschen und den "Rückwanderern" aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa, der jüdischen Transit- und Einwanderung, den Kriegsgefangenen des Ersten Weltkrieges sowie den vor allem osteuropäischen Auslandsbeschäftigten auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Nicht nur der letzte Themenkomplex deutet auf den engen Zusammenhang zwischen Einwanderung und Beschäftigungspolitik hin, der ausführlich in den Kapiteln 6 und 7 analysiert wird. Steuerung von Wanderungsbewegungen berührte immer auch grundlegende Fragen von außen- und innenpolitischer Politikgestaltung. Das 8. Kapitel ist daher internationalen Verträgen zur Migrationskontrolle gewidmet, das vornehmlich auf die deutsche Visapolitik gegenüber polnischer Arbeitswanderung, die Aushandelung des "Rückkehrerzwangs" polnischer Beschäftigter, die "Resaisonalisierung" der polnischen Arbeitswanderung und die anti-polnische Anwerbepolitik eingeht.
Oltmer kann aufzeigen, dass die Weimarer Einwanderungspolitik einerseits durch antiliberale Fortwirkungen aus dem Kaiserreich motiviert und andererseits durch deutsche Revisionsbemühungen des Versailler Vertrages bestimmt war. Die Weimarer Migrationspolitik war beständig zwei leitenden Grundkonzeptionen ausgesetzt, die unterschiedliche Interessen zu vereinen suchte. Einerseits war der Bedarf an Arbeitskräften nur durch zusätzliche Arbeitswanderung aus dem Ausland zu decken. Andererseits bestimmte der Gedanke ethnischer Homogenität die Bemühungen der Regierungsstellen, vornehmlich "deutschstämmigen" Arbeitskräften durch gezielte Anwerbeabkommen wie mit Ungarn, der Tschechoslowakei und Jugoslawien den Vorzug zu geben, und mit bilateralen Abkommen wie dem deutsch-polnischen Wanderungsvertrag von 1927 den ständigen Aufenthalt von ausländischen Arbeitskräften in Deutschland zu regulieren beziehungsweise einzuschränken. In Deutschland kam eine beschleunigte Entwicklung wohlfahrtsstaatlicher Politik (Kriegsopfer- und Rentenversorgung, Kranken-, Invaliden- und Unfallversicherung) hinzu. Staatsbürgerrechte und sozialstaatliche Zugangschancen bestimmten daher auch eine restriktivere Zuwanderungspolitik.
Deutschland blieb zwischen 1918 und 1932 ein Ab- und Einwanderungsland. Mehr als 600.000 Menschen verließen einerseits zwischen 1919 und 1932 Deutschland in Richtung Übersee. Zusätzlich zu den 8 Millionen ehemaligen Soldaten galt es nahezu eine Million Deutsche aus den abgetretenen Gebieten sowie "Deutsche fremder Staatsangehörigkeit" einzugliedern, was vor allem in den ersten Jahren von 1918-1922 zu bewältigen war. Das Statistische Reichsamt schätzte die Zahl der Übersiedler aus Elsass-Lothringen bis Ende 1920 auf 120.000. Die weitgehend ungeregelte Übersiedlung wurde wesentlich durch das Roten Kreuzes organisiert. Die arbeitsmarktpolitische Eingliederung verlief hier weniger kompliziert, da eine relative große Zahl aus der Montanindustrie stammte und leicht weitervermittelt werden konnte. Gegenüber den Zuwanderern aus den abgetretenen Gebieten befand sich die Republik in einer "widersprüchlichen Gemengelage" (S. 135). Angesichts der wirtschaftlichen und sozialen Folgen und aus außenpolitischen Revisionsinteressen, in denen die deutschen Minderheiten als Verhandlungsmasse dienen sollten, forderte die Regierung die Betroffenen zum Verbleib in den abgetretenen Gebieten auf, verschärfte die Einreisebestimmungen 1921 und ging sogar zu einer Zuzugssperre 1922/23 über, die jedoch wieder für einzelne Gruppen gelockert wurde. Der Aufnahmepolitik war, so Oltmer, keine durchdachte Integrationspolitik nachgelagert. In der zweiten Hälfte des Jahres 1923 wurden die Maßnahmen zum Abbau der "Flüchtlingsfürsorge" schließlich weiter verschärft. Das letzte "Heimkehrerlager" wurde im Mai 1925 aufgelöst.
Oltmer beschreibt in dem kurzen aber spannenden Abschnitt zur Repatriierung von mehr als 2 Millionen internierten Kriegsgefangenen zu Kriegsende, wie bis 1921 die Situation vor allem Hunderttausender Kriegsgefangener der ehemaligen zaristischen Armee ungeklärt blieb und eine organisatorische Herausforderung nicht nur aufgrund der revolutionären Novemberwirren und der polnischen Grenzsperre seit Ende 1918, sondern auch aufgrund der Versailler Abgaben an Transportmaterial darstellte. Hinzu kam, dass nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen die Sowjetbehörden zunächst alle Zuwanderungseinrichtungen auflösten. Da bereits im August 1916 nahezu 1,45 Millionen Kriegsgefangene (90 Prozent) in der deutschen Kriegs- und Landwirtschaft eingesetzt waren, bedeutete die Demobilmachung vor allem ein Einbruch bei der arbeitsintensiven Getreide- und Hackfruchternte. Die Endtermine für eine vollständige Zurückziehung aller Kriegsgefangenen wurden daher immer wieder verschoben bis ein Abkommen mit der Sowjetunion schließlich die Rückführung im April/Mai 1920 endgültig regelte.
Darüber hinaus gehen Schätzungen von 600.000 russischen Flüchtlingen im Jahre 1922/23 aus. Auch hatte die junge Republik die Weiterwanderung von Auswanderungswilligen wie den 200.000 "Ruhrpolen" nach Nordfrankreich rechtlich zu vereinheitlichen. Aufgrund widerstrebender arbeitsmarktpolitischer Interessen und protektionistischer Politik blieben die Verständigungsbemühungen in diesen einzelnen Handlungsfeldern über lange Jahre ungelöst oder wurden im Zweifelsfall zeitlich befristet geregelt. Inflation und Wirtschaftskrisen um 1923 und 1929 verstärkten den Protektionismus auf dem Arbeitsmarkt. Dies haben auch die Zehntausende von zuwandernden osteuropäischen Juden zu spüren bekommen. Sie wurden verschärften Asylbedingungen seit 1920 unterworfen, die den restriktiven staatlichen Vorgaben in der Arbeitsvermittlung entsprachen. Der so genannte "Inländervorrang" bei der Arbeitsvermittlung wurde nun auch auf jüdische Einwanderer übertragen. Im Gefolge des verstärkten Antisemitismus erreichten in der ersten Jahreshälfte 1923 die Ausweisungszahlen von Juden ihren Höhepunkt, während zwischen 1919 und 1932 in Preußen immerhin insgesamt 130.000 Juden eingebürgert wurden.
In der Weimarer Republik löste das Reichsministerium des Innern endgültig die halbstaatlichen Einrichtungen wie die Auskunftsstellen der Deutschen Kolonialgesellschaft ab. Das "Reichswanderungsamt" wurde 1919 gegründet und 1924 dem Reichsinnenministerium angegliedert. Folgt man Oltmers Darstellung, so lässt sich in diesem Zusammenhang eine Polykratie von Interessen und Zuständigkeiten zwischen den einzelnen Regierungsstellen feststellen: das Reichswanderungsamt wandte sich beständig gegen eine "strikte Blockadepolitik" des Reichsinnenministeriums (S. 188) und das Reichsarbeitsministerium und das Reichsernährungsministerium forderten eine flexible Lockerung der strikten Ausländerkontingente für die Landwirtschaft. Auch das Außenministerium schaltete sich unter Walter Rathenau in die Diskussion um die Aufnahme von Russlanddeutschen ein. Russlanddeutsche könnten wegen einer mangelnden Wohnungs- und Lebensmittelversorgung nicht weiter aufgenommen werden. Hilfsaktionen für die hungernden Russlanddeutschen seien vor Ort ausdrücklich zu fördern, auch um die vermeintliche Gefahr gesundheitlicher Risiken durch Seuchen zu vermeiden.
Mit der vorliegenden Studie hat Jochen Oltmer eine Arbeit zu dem komplexen und lehrreichen Verhältnis von Politik und transnationaler Migration für die Zeit der Weimarer Republik vorgelegt, die historische Entwicklungslinien von Überfremdungsängsten innerhalb der aktuellen Debatte um die Zukunft des Einwanderungslandes Deutschland andeutet. Oltmer weist auch auf den gewissen Vorbildcharakter arbeitsmarktpolitischer Instrumente - wie die Anwerbeverträge - für die "Gastarbeiterperiode" sowohl der Bundesrepublik zwischen 1955 und 1973 als auch der DDR zwischen 1961 und 1989 hin. Darüber hinaus kann Oltmers Publikation auch als politische Kontextstudie zu den in der Zwischenkriegszeit florierenden destruktiv-rationalen Neuordnungsutopien von Geographen und Bevölkerungswissenschaftlern sowie zu den mörderischen Umsiedlungsplänen der Nationalsozialisten gelesen werden.
Für absehbare Zeit dürfte Oltmers Studie als Standardwerk zu dem Thema zu gelten haben. Darüber täuscht auch nicht ein verbesserungsdürftiges Personenregister hinweg, das einige im Text genannte zeitgenössische Autoren wie zum Beispiel Hans-Siegfried Weber, Karl C. Thalheim und Carl Caesar Eiffe (hier mit Druckfehler als Eisse zitiert), aber auch Akteure wie Kaiser Wilhelm II. und den dem Alldeutschen Verband nahe stehenden Adolf Lane nicht erwähnt. Dem Buch ist ein breiter Zuspruch zu wünschen, so dass sich diese kleinen Mängel leicht in einer zweiten Auflage verbessern lassen dürften.
Anmerkungen
[1] Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 2. Aufl., München/Zürich 1991, S. 422f.
[2] Für weitere Überblickswerke zur Ausländerpolitik in Deutschland siehe die Standardwerke von Gosewinkel, Dieter, Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 2001 und Herbert, Ulrich, Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
[3] Siehe dazu zuletzt Heinemann, Isabel; Wagner, Patrick (Hgg.), Wissenschaft – Planung - Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006. Siehe weiterhin für die bevölkerungspolitischen Osteuropa-Pläne der Nationalsozialisten Madajczyk, Czeslaw (Hg.), Vom Generalplan Ost zum Generalsiedlungsplan, München 1994; Wasser, Bruno, Himmlers Raumplanung im Osten. Der Generalplan Ost in Polen 1940-1944, Basel 1993; Aly, Götz; Heim, Susanne, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine europäische Ordnung, Hamburg 1991; sowie Raphael, Lutz, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaften im NS Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 5-40. Als theoriegeleitete Synthese für das 20. Jahrhundert siehe die hervorragende Studie von Mann, Michael, The Dark Side of Democracy. Explaining Ethnic Cleansing, Cambridge 2005.
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