Österreichischer Bericht aus Amsterdam über die holländische Konferenzinitiative, 18. April 1917

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HHStA, Politisches Archiv I, Krieg 25 z, rot 959. Gedruckt, 2 S.1

Amsterdam, 18. April 1917.

Friedensaktion der sozialistischen Internationale

Die projektierte Konferenz in Stockholm.

   Die die Geschäfte des Exekutivkomitees führende holländische Delegation im "Internationalen sozialistischen Bureau" hat am 15. d. M. den Beschluß gefaßt, sich in corpore nach Stockholm zu begeben, um eine Konferenz aller an die Internationale angeschlossenen sozialistischen Parteien in die Wege zu leiten.2 Der Beschluß kam spontan zustande, bloß auf Grund jener Meldungen, welche in der Presse vorlagen, die aber die Delegierten zur Überzeugung brachten, daß jetzt der psychologische Moment für eine internationale Aktion eingetreten sei, den die sozialistische Internationale nicht vorbeigehen lassen dürfe, wofern sie sich nicht jeden Einfluß auf den Lauf der Ereignisse begäbe.

   Der Sekretär des internationalen Bureaus, Herr Huysmans, telegraphierte obige Entscheidung des Exekutivkomitees an Branting mit einem Kommentar, in welchem er die Erwartung aussprach, daß in Rußland die extremen revolutionär-sozialistischen wie die imperialistischen Tendenzen, repräsentiert einerseits durch Lenin, andererseits durch Miljukoff, zurückgedrängt werden und schließlich die Richtung Kerensky sich gebietend festsetzen würde. So wäre die Basis für eine Aktion der sozialistischen Parteien gegeben.3

   Vorstehende Auffassung fand Huysmans durch ein Telegramm Brantings im wesentlichen bestätigt, welches sich mit obengenannter Depesche gekreuzt hatte. Branting führt darin auf Grund seiner in Petrograd gemachten Wahrnehmungen aus: Die Lage in Rußland stabilisiert sich. Der Gedanke an eine Diktatur des Proletariats findet bei den Arbeitern keinen besonderen Widerhall und gerade durch diese gemäßigte Politik sind sie imstande, einen - wenn auch abnehmenden - Einfluß auf die Regierung zu bewahren. Letztere Strömung findet ihren stärksten Rückhalt in der Armee.4

   Die äußere Möglichkeit einer internationalen Konferenz in Stockholm besteht heute schon insoferne, als drei französische Sozialisten und eine Delegation der englischen Arbeiterpartei, die nach Rußland gehen, bereits in Stockhom eingetroffen sind.5 Desgleichen sind Belgier und Italiener nach Petrograd delegiert.

   Huysmans hat auch Vandervelde telegraphisch dringend aufgefordert, nach Stockholm zu reisen.6

   Allerdings sind die Delegationen aus den vorgenannten Ländern von ihren Regierungen mit der Aufgabe betraut, auf die russische Arbeiterschaft im Sinne der Fortsetzung des Krieges einzuwirken. Die sozialistischen Parteien, denen sie angehören, haben obendrein bisher jedes Zusammenwirken mit den Sozialisten der Zentralmächte abgelehnt.

   Über die Möglichkeiten, die sich heute aus der Gesamtlage ergeben, äußerte sich Huysmans privatim in nachstehender Weise:

   "Die Internationale k a n n in Stockholm zusammenkommen und w i r d es, wenn die Russen es wollen. Eine sozialistische Partei, wie die russische, die durch eine siegreiche Revolution ihre Kraft bewiesen hat, besitzt eine Autorität, der sich Franzosen und Engländer nicht zu widersetzen vermögen. An der Konferenz sollen nach dem Haager Beschluß auch Parteiminoritäten (in Deutschland Fraktion Haase-Ledebour, in Frankreich Longuet, in England die Independent Labour Party und andere) teilnehmen. Die sozialistischen Mehrheiten in diesen Ländern müssen es durchsetzen, daß den Vertretern der Minderheiten nicht, wie bisher, die Pässe verweigert werden.

   Der Erfolg der projektierten Konferenz - fährt Huysmans fort - hängt von der deutschen Sozialdemokratie ab. Sie muß an ihre Regierung mit der Forderung eines klaren Friedensprogramms herantreten. Der Verzicht auf jegliche Annexion allein ist nicht entscheidend. Die Idee der Schiedsgerichte muß darin Platz finden. Letztere wird speziell Wilson Genugtuung verschaffen, der den Krieg de facto noch nicht begonnen hat und sicher froh wäre, wenn er nicht hineisteigen müßte. Ich weiß aber auch von maßgebeder Seite, daß man bei der Entente ein großes Gewicht auf demokratische Reformen in Deutschland legt". Auf die an ihn gerichtete Frage, ob er dabei an ein Ministerium Scheidemann denke, antwortete Huysmans: "Das gerade nicht, aber z.B. an ein Kabinett Naumann-David".7

   "Die demokratischen Reformen in Deutschland dürften besondes nach dem Eintritt Amerikas in die Ententekombination als eine hinreichende Konzession an ihre proklamierten Kriegsziele erscheinen, um auf Friedensunterhandlngen einzugehen. Man darf doch nicht glauben, daß etwa Frankreich nicht froh wäre, wenn es sich die Opfer ersparen könnte, die ihm die Fortsetzung des Krieges auferlegt".

   "Bei der Einwirkung der deutschen Sozialisten auf ihre Regierung kann die österreichische Sozialdemokratie, namantlich auch dank dem persönlichen Ansehens Dr. Adlers in den leitenden Parteikreisen, eine treibende Kraft bilden".

   "Es bleiben allerdings eine Reihe territorialer Fragen. Was Elsaß-Lothringen betrifft, so wird Frankreich auf einer Satisfaktion bestehen, wenn sie auch nur symbolischen Charakter hat, das heißt ein paar Quadratmeter (!) beträgt. Für Polen ist die Autonomie der einzelnen Teile eine annehmbare Lösung. Daß man sich der Einigung zu Liebe die Köpfe gegenseitig weiterhin einrennt, denke ich kaum".

   Die Abreise der Mitglieder des Exekutivkomitees steht unmittelbar bevor. Troelstra beabsichtigt heute über Berlin nach Stockholm zu fahren. Albarda soll bald, Wibaut in einigen Tagen folgen. Huysmans und van Kol begeben sich diesen oder den nächsten Freitag per Schiff nach Schweden.8

Anmerkungen

1    Kopf des Dokuments: Beilage ad Bericht aus dem Haag, ddo. 19. April 1917, Nr. 32/P. Nr. 9410 - 155. Der Informant dieses Berichts an das österreichische Außenministerium ist vermutlich Otto Pohl, Korrespondent der Wiener Arbeiter-Zeitung im Haag, der guten Kontakt mit Huysmans hatte. Pohl nahm dann im April eine Anfrage der Wiener Regierung an, mit Prinz Emil zu Fürstenberg nach Stockholm zu gehen, um die Stockholmer Konferenz zu beobachten.

2   Siehe Dok. Nr. P/01a-d.

3   Telegramm Huysmans an Branting, 16.4.1917, in ARAB, NL Branting, 3.1:11; abgedruckt in Geldolf 1996, S. 197f. Das Telegramm enthält den angeführten Kommentar nicht; auch ein gesonderter ist nicht nachweisbar.

4   Telegramm Branting an Huysmans, 14.4.1917, in CHA, Stockholm, Corr., April 1917, Nr. 16; abgedruckt in Geldolf 1996, Anm. 16. - Zu Brantings Reise nach Petrograd am 2.-14.4.1917 siehe die verschiedenen Meldungen, Interviews mit Branting und seine Berichte in schwed. Social-Demokraten 12.-30.4.1917; Dagens Nyheter 15.4.1917, S. 1; Tagebuch Wiik, Abschrift S. 18f., Eintragungen 10.-11.4.1917, in ARAB, Kopiesamling, Box 15; Tagebuchaufzeichnungen Palmstierna 1953, S. 43, 45f., 48; Tagebuchaufzeichnngen Cachin 1993, S. 67f.; Erinnerungen von Garwy 1965, S. 444-447, und Cereteli 1963, 272-275; Nils Lindh (1917-1918 Korrespondent des schwed. Social-Demokraten in Moskau), Branting och revolutionens ryssar. Bud från Branting [Branting und Russen der Revolution. Bote von Branting] in Morgon-Tidningen 3.1.1956; Höglund 1929, S. 132f.; Stillig 1977, S. 33-36; Mousson-Lestang 1988, S. 354-360; Kan 1998, S. 72-78, und Kan 1999, S. 107.

5   Marcel Cachin, Marius Moutet und Ernest Lafont bzw. Will Thorne, James O'Grady und William S. Sanders trafen am 10.4.1917 in Stockholm ein.

6   Telegramm Huysmans an Vandervelde, in CHA, Stockholm, Corr., April 1917, Nr. 18; abgedruckt bei Geldolf 1996, S. 198.

7   Friedrich Naumann gehörte der linksliberalen Forschrittlichen Volkspartei an, und zwar im Krieg dem Annexionforderungen unterstützendenen Flügel, und Eduard David dem rechten Fügel der MSPD.

8   Zur geplanten Abreise siehe Van Kol an Branting, 17.4.1917, in ARAB, NL Branting, 3.1:12. Troelstra war am 19.-23.4.1917 in Berlin, am 24.-26.4. in Kopenhagen und traf am 26.4. in Stockholm ein. Van Kol und Albarda waren am 24.-26.4. in Kopenhagen und kamen am 28.4. nach Stockholm. Huysmans kam nach einer etwas abenteuerlichen Schiffsreise ab Rotterdam (26.4.) am 30.4. in Göteborg und danach in Stockholm an. Zur Reise von Huysmans Geldolf 1996. S. 202-204.