Pressekommuniqué zu den Sitzungen mit der österreichischen Delegation am 25.-26, Mai 1917, 29. Mai 1917

P/22a
CHA, Stockholm, N. & C., Mai 1917:4. Hekt., 4 S.1

   Das holländisch-skandinavische Komitee empfing Freitag und
Samstag den 25 und 26 Mai 1917 die Delegation der deutschen Sozialdemokraten
Österreichs bestehend aus den Genossen Dr Adler, Dr Hartmann, Dr
Ellenbogen, Dr Renner, Seitz, Mitgliedern des Reichsrats, und Hueber,
Sekretär der Gewerkschaften. Der Vernehmung wurden vom Komitee beigezogen:
Dr Diamand fuer die polnische Sozialdemokratie Galiziens, die Genossen Burian
und Stein fuer die tschechische Sozialdemokratie (Zentralisten) und die
Genossen Markic und Glumac fuer die Sozialdemokratie von Bosnien und
Herzegovina.

   Nach der Anschauung der oesterreichischen Delegation ist der
Imperialismus die allgemeine Kriegsursache, aber die nationalen Fragen haben
vielfach die Rolle von Kriegsvorwaenden gespielt.2 Im Zentrum Ostens
und Suedostens Europas ist die nationale Siedelung fast ueberall so gemischt,
dass eine territoriale Abgrenzung nicht moeglich ist und ein erneuter
Kriegsanlass waere. Selbst wo Nationen trennbar waeren, ergebe sich durch
solche Kleinstaaterei, dass der politische und wirtschaftliche Aufstieg dieser
Nationen gefaehrdet waere. Einmal bestehende grosse Staats- und
Wirtschaftsgebiete zu zerschlagen waere nur Grossstaatsbourg[e]oisien dienlich,
die viele Kleinstaaten leichter gegeneinander ausspielen und beherrschen
koennten. Darum hat sich die Delegation, auf Grund des Baseler Manifestes fuer
die Nationaloekonomie bekannt und meint sie, dass die Erringung dieser
Freiheiten das Werk dieser Nationen selbst sein muss. Im besonderen erklaerten
die Delegierten:

   1/ dass sie einen Friedensschluss ohne Annexionen fordern

   2/ dass sie alle buergerlichen Regierungen und herrschenden
Bourg[e]oisien in gleicher Weise fuer den Krieg objektiv verantwortlich halten
und auch darum fuer einen allgemeinen Frieden ohne Entschaedigung eintreten.
Aus diesem Grund sind sie der Meinung, dass die Beantwortung der Schuldfrage
abgelehnt werden muss.3 Was die einzelnen nationalen Fragen
betrifft, so erklaerten sich die Delegierten gegen die Annexion von
Belgien,4 fuer die staatliche Selbstaendigkeit des serbischen Volkes
und fuer einen durch die Vereinigung mit Montenegro herzustellenden freien
Zugang Serbiens zum Meer.5 Die Balkanstaaten moegen ihre staatlichen
Beziehungen einvernehmlich regeln und durch ein Buendnis die alte Forderung
"der Balkan den Balkanvoelkern" selbst verwirklichen.6

   3/ Die suedslavischen Nationen und Kronlaender
Oesterreich-Ungarns samt Bosnien sollen im Verband des Reiches bleiben, aber
die Delegierten verpflichten sich, die Bestrebungen dieser Voelker nach
Autonomie jederzeit zu foedern.

   4/ Die Selbstaendigkeit Finnlands und Russisch-Polens soll
gesichert werden. Die Polen in Galizien und in Preussen sollen ihre volle
Autonomie im Rahmen der beiden Staaten erhalten sowie auch die volle Autonomie
der oesterreichischen Ruthenen gefordert wird. Die Delegierten erwarten von der
Zukunft und von freien Vereinbarungen zwischen den [dem] wiedererstandene[n]
Staate Kongresspolen und bei den Mittelmaechten die dauernde Ordnung der
polnischen Frage.

   5/ Gegenueber gewissen Vorwaenden als handle es sich in diesem
Krieg um eine Befreiung der kleinen Voelker Oesterreichs stellen die
Delegierten fest, dass der oesterreichische Staat die kleinen Nationen
erhaelt.7

   Als den wesentlichsten Bestandteil des Friedensvertrages
bezeichneten die Delegierten die wirtschaftliche[n] und voelkerrechtliche[n]
Fragen. Gefordert werden: die Wiederherstellung der Verkehrsfreiheit zu Lande
und zu Meere, der Abbau des Hochschutzzollsystems, die offene Thuer in allen
Kolonialgebieten, die Einrichtung einer gemeinsamen internationalen Verwaltung
saemtlicher Seehandels-Strassen und interozeanischen Kanaele, die Schaffung von
Welteisenbahnrouten unter Beteilung und mit Verwaltung [Mitverwaltung] aller
Maechte. Die Delegierten erheben Einspruch gegen den wirtschaftlichen Krieg,
wie dieser durch die Pariser Konferenz 1916 in ein System gebracht
wurde,8 und meinen, dass Zollvereinigungen nur dann ein Fortschritt
sind, wenn sie auf Erweiterung des freien Verkehrs abzielen.

   Im Friedensvorschlag sind auch gemeinsame Bestimmungen im Sinne
der von den internationalen Gewerkschaftenskongressen festgestellten
Forderungen zu treffen.

   6/ Der Krieg hat alle Garantien der [des] bisherigen
Seekriegsrechtes vernichtet. Die Rueckentwicklung, die im Pariser Frieden von
1856 angebahnt ist, muss weitergefuehrt werden. Dazu gehoeren: Verbot der
Kaperei und der Bewaffnung der Handelsschiffe, Abschaffung des Seebeuterechts,
Einschraenkung des Begriffs der Kontrabande, von dem mindestens aller Rohstoffe
der Bekleidung und Ernaehrung ausgeschlossen werden muessen, Zurueckfuehrung
des Blockaderechts auf seinen alten Umfang, Verbot der Erklaerung eines Teiles
des offenen Meeres zu Kriegsgebiet, Einschraenkung der im See[-] und Luft-Kampf
zulaessigen Kriegsmittel.

   Die Delegation tritt weiter fuer die Fortfuehrung des
Friedenswerkes der beiden Haager Konferenzen ein, fuer die vertragsmaessige
Einschraenkung der Ruestungen zu Wasser und zu Lande, bis zur voelligen
Abruestung der stehenden Heere, fuer die Organisation einer [eines] auf 
blosse Landesverteidigung eingerichtetes [eingerichteten] Volksheer[es]. Soweit
Ruestungen noch erforderlich sind, ist die Ruestungsindustrie zu
verstaatlichen.

   Die oesterreichische Sozialdemokratie ist ohne Vorbehalt und
ohne Vorbedingungen zur Einberufung eines Sozialisten-Kongresses bereit und sie
haelt diese Teilnahme fuer die Pflicht jeder Section der Internationale. Die
Delegierten erwarten, dass alle angeschlossenen Sektionen in gleichem Geiste in
die Verhandlungen eintreten und halten die Vertretung aller nationalen
Sektionen sowohl in ihrer Mehrheit wie in ihrer Minderheit fuer
notwendig.9

   Die tschechischen, polnischen und bosnischen Delegationen
werden ihren Standpunkt praezisieren, nach Berathung mit den anderen
Organisationen, welche von ihrer Sektion abhaengig sind und womit sie spezielle
Probleme zu beruecksichtigen haben.10

Anmerkungen

1   Datierung 29. Mai 1917 im franz. Exemplar. - In CHA,
Stockholm, N. & C., Mai 1917:3 und Mai 1917:4, auch hschr. Entwürfe
auf deutsch und franz. (eventuell von Otto Pohl, mit hschr. Verbesserungen von
Huysmans), mschr. Version auf franz. mit hschr. Verbesserungen und hekt. auf
franz. Ebenfalls in ARAB, Holländsk-skandinaviska kommittén, Box 1
(deutsch); IISG, Collection Deuxième Internationale, 218; schwed.
Social-Demokraten 30.5.1917, S. 1 und 4. Mit einigen abweichenden
Formulierungen als österreichisches Memorandum abgedruckt bei Brügel
1925, S. 294f. - Siehe auch die Kritik von Hueber und Victor Adler, Huysmans
habe in der französischen Übersetzung "willkürlich den Sinn
verändernde Streichungen vorgenommen", Dok. Nr. P/27a, Anm. 5. - Das
österreichische Memorandum liegt, wie in Dok. Nr. 21, Anm. 1, angegeben,
in zwei Fassungen vor. Die ausführlichere ist eine überarbeitete
Fassung, in die verschiedene Stellungnahmen nach den Komiteesitzungen
einearbeitet worden sind: Kritik am Fragebogen (Imperialismus und
ökonomischen Fragen stärker als Kriegsursache zu betonen; unter
Friedensbedingungen einseitig nationale Fragen hervorgehoben; Unklarheit der
Begriffsunterscheidung zwischen Nation und Nationalität; die
unvollständige und einseitige Aufzählung von nationalen Fragen,
worunter die der Entente nicht benannt werden, so Irland, Malta, Korsika,
Südafrika, Tripolis, Marokko, Ägypten), die Nennung von
Elsaß-Lothringen, Wallonen und Flamen (Autonomie) sowie Tschechen neben
auch im Memorandum angesprochenen Belgien, Serbien, Bosnien, Polen und
Finnland; die ausführlichere Behandlung der Friedensbedingungen
(wirtschaftlich, sozial, internationale Vereinbarungen); ausführlicher
begründete Zurückweisung der Kriegsschuldfrage und die Verpflichtung
der sozialistischen Parteien zur Ausführung der gefaßten
Beschlüsse der Stockholmer Konferenz. Für die Tschechen wird eine
"territoriale Absonderung" abgelehnt, nur gesicherte nationale Selbstverwaltung
und ausgebautes Sprachenrecht zugestanden. Zu Elsaß-Lothringen siehe
Nachweis in Dok. Nr. P/21, Anm. 47.

2   Siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 9.

3   Siehe Dok. Nr. P/22, Anm. 49.

4   Siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 22.

5   Siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 27.

6   Siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 24.

7   Siehe Dok. Nr. P/21, Anm. 11.

8   Siehe Nachweise in Dok. Nr. P/14a, Anm. 7.

9   Die Linke in Österreich durfte nicht nach Stockholm
fahren. Sie stellte dem dem Holländisch-skandinavischen Komitte eine
Denkschrift zu; in CHA, Stockholm N. & C., Mai 1917; IISG, NL V. Adler, 4;
abgedruckt in Marin 1992, S. 419-425. Dort wird einleitend angegeben,
daß sie "durch eine Korrespondenz der deutschen Parteiopposition"
verbreitet wird. Möglicherweise handelte es sich um die Sozialistische
Auslands-Korrespondenz. Sie wurde ausführlich in Mitteilungs-Blatt [USPD]
Nr. 16, 15.7.1917, S. 7, wiedergeben, wodurch auch eine ungefähre
Datierung gegeben ist. Man forderte das Stockholmer Organisationskomitee auf,
sich ganz auf den sofortigen Friedensschluß zu konzentrieren. Als
Grundlage und einzig realistische Basis, um schnell zu einem Frieden zu kommen,
solle der Status quo ante gelten. Eventuelle Grenzveränderungen
müßten im Selbstbestimmungsrecht verankert sein. Das
Selbstbestimmungsrecht dürfe nicht auf die Schaffung souveräner
Nationalstaaten eingeengt werden, sondern würde in vielen Gebieten, so
auch für den Raum Österreich-Ungarn, seine beste Anwendung in
supranationalen, demokratisch verfaßten Staaten mit weitestgehender
Autonomie finden.

10   Zusatzerklärung der tschechischen Zentralisten,
veröffentlicht am 2.6.1917, siehe Dok. Nr. P/22, Anm. 9. - Zur polnischen
Delegation Dok. Nr. P/58. - Zur bosnischen Delegation Dok. Nr. P/41 und Nr.
P/64.